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Hahnemann: Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der
Arzneisubstanzen, nebst einigen Blicken auf die bisherigen (erschienen 1796 in
Hufelands Journal)
Zusammenfassung der wichtigsten Textstellen.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Arbeit Hahnemanns wird heute oft
als das Geburtsjahr der Homöopathie bezeichnet. Erstmals veröffentlicht
er hier die Ergebnisse seiner jahrelangen Forschungen.
Bisherige Methoden, Arzneiwirkungen zu erforschen
Bisherige Methoden, Arzneien zu verordnen
Neue Wege zur Erforschung von Arzneimittelwirkungen
Vorschlag für ein neues Prinzip zur Verordnung von Arzneien
Bisherige Methoden, Arzneiwirkungen zu erforschen:
...
Wo auch die Chemie nicht direkte die Heilkräfte angeben kann, thut sie ´s
doch indirekte, wenn sie die aus Mischungen entstehende Unkräftigkeit vor
sich wirksamer Arzneien, oder die Schädlichkeit der Vermischung vor sich
unschuldiger Mittel anzeigt... .
... Doch es mag an diesen wenigen Beispielen genug
seyn, die Ausschließung der Chemie von der Entdeckung der Heilkräfte
der Arzneien zu widerlegen. ...
... Weit schlimmer haben diejenigen die Materia medica berathen, welche einen
Weg zur Ausfindung der Heilkräfte in der Zumischung der unbekannten Arzneien
zu dem aus der Ader gelassenen Blute suchten. ...
Selbst die Einspritzung der Arzneimittel in die Adern der Thiere ist aus
eben dieser Ursache eine sehr heterogene und unsichre Methode. ... So wird dann
aber wohl die Einflössung in den Mund der Thiere etwas Gewisses über
ihre arzneilichen Wirkungen lehren? Bei weitem nicht! Wie sehr weicht nicht ihr
Körper von dem unsrigen ab! Eine große Menge Krähenaugen verträgt
ein Schwein ohne Schaden, und von 15 Gran sind schon Menschen gestorben. ...
... Da die erwähnten Erfoschungsquellen der Heilkräfte der Arzneien
so leicht versiegten, so dachte der Systematiker der Arzneimittellehre auf andre,
wie ihm dünkte, sicherer Art. Er suchte sie in den Arzneisubstanzen selbst
auf, er wähnte da Winke zu finden, die ihn leiten sollten. Er bedachte aber
nicht, daß die sinnlichen äussern Merkmale derselben oft sehr
trüglich sind, so trüglich, als die Physiognomik bei Errathung der Herzensmeinungen.
...
... Vielleicht erlaubt aber die botanische Verwandschaft einen sichern
Schluß auf die Aehnlichkeit der Wirkung! Sie erlaubt ihn eben so wenig,
als viele Ausnahmen von entgegengesetzten oder doch sehr abweichenden Kräften
in einer und derselben Pflanzenfamilie und in den meisten derselben es giebt.
...
... Es bleibt uns nichts, als die Erfahrung am menschlichen
Körper übrig. Aber welche Erfahrung? Die ungefähre, oder die
geflissentliche? ...
... Die meisten Tugenden der Arzneikörper sind, ich lege dieß demüthigende
Geständnis ab, durch ungefähre, empirische Erfahrung entdeckt
worden, durch Zufall, oft durch Nichtärzte zuerst bemerkt. ... Ich
bin gar nicht willens, diesem Entdeckungswege der Arzneikräfte seinen hohen
Werth abzusprechen; die Sache redet von selbst. Aber für uns giebt es dabei
nichts zu thun; Zufall schließt allen Vorsatz, alle Selbstthätigkeit
aus.
... so möchte es vor der Hand gar nicht nöthig seyn,
den Arzneivorrath in der Zahl zu vermehren. Sehr wahrscheinlich lieget in den
schon vorhandnen alle (oder doch beinahe alle) die Hülfe, die uns noch gebricht.
...
Bisherige Methoden zur Verordnung von Arzneien
Wenn ich mich nicht irre, so hat die praktische Arzneikunde
gewöhnlich drei Wege eingeschlagen, um den Beschwerden des menschlichen Körpers
Heilmittel anzupassen. ...
... Der erste Weg, die Grundursachen der Uebel hinwegzunehmen
oder zu zerstören, war der erhabenste, den sie betreten konnte. Alles
Dichten und Trachten der besten Aerzte in allen Jahrhunderten ging auf diesen,
der Würde der Kunst angemessensten Zweck. Es blieb aber immer, um mich eines
spagyrischen Ausdrucks zu bedienen, bei Partikularen; den großen Stein,
die Kenntniß der Grundursachen aller Krankheiten, erlangten sie nie. ...
... Auf dem zweiten Wege suchten sie die vorhandnen
Symptomen durch Arzneien zu unterdrücken, die eine gegenseitige
Veränderung hervorbringen, z. B. Verstopfung des Leibes durch Abführungsmittel,
– entzündetes Blut durch Aderlässe, Kälte, Salpeter, – Säure
im Magen durch Alkalien, – Schmerzen durch Mohnsaft. ...
... Bei chronischen Krankheiten lindert sie nur anfänglich, in der Folge
sind stärkere Gaben solcher Mittel nöthig, die die Hauptkrankheit nicht
heben können, und so schaden sie um desto mehr, je länger sie in Ausübung
gebracht werden, aus Gründen, die weiter unten vorkommen. ...
... Ich bitte meine Mitbrüder, diesen Weg (Contraria contrariis) bei chronischen,
auch schon den eben ins Chronische ausartenden akuten Krankheiten zu verlassen;
er ist der unrichtige, ein Holzweg im dunkeln Haine, der sich an Abgründen
verliert. ...
... Doch ich brauche als Warner hier nicht allein zu stehen.
Die bessern, einsichtsvollern und gewissenhaftern Aerzte haben in chronischen
und ins Chronische ausartenden akuten Krankheiten von Zeit zu Zeit (auf einem
dritten Wege) nach Mitteln gegriffen, die nicht die Symptomen vermänteln
sollten, sondern die das Uebel aus dem Grund hüben, mit einem Worte, nach
spezifischen Mitteln; das wünschenswertheste, löblichste Beginnen,
was sich nur denken läßt. Sie versuchten so z. B. die Arnika in der
Ruhr, und fanden sie in einigen Fällen spezifisch hülfreich.
Aber welcher Führer leitete sie, welche Gründe bestimmten sie, solche
Mittel zu versuchen? Leider! nur Vorgang vom empirischen Hazardspiele, von Hausmittelpraxis,
Fällen des Zufalls, wo man diese Substanzen von ungefähr bei dieser
oder jener Krankheit hülfreich fand, ...
Neue Wege zur Erforschung von Arzneimittelwirkungen
...
Die Wirkungen der Heilmittel zu erforschen, um sie den Körperbeschwerden
anzupassen, sollte man so wenig wie möglich sich auf den Zufall verlassen,
sondern so rationell und geflissentlich zu Werke gehen als nur möglich. Wir
haben gesehn, daß zu letzterm Behufe die Beihülfe der Chemie noch mangelhaft
ist und mit Behutsamkeit zu Rathe gezogen werden muß ...
... Es bleibt uns nichts übrig, als die zu erforschenden
Arzneien am menschlichen Körper selbst zu versuchen. Diese Nothwendigkeit
sahe man zu allen Zeiten ein, aber man betrat gewöhnlich den falschen Weg,
indem man sie blos, wie oben gedacht, empirisch und auf Gerathewohl gleich in
Krankheiten anwendete. ...
... Der wahre Arzt, den die Vervollkommnung seiner Kunst am
Herzen liegt, kann keine andern Nachrichten von Arzneien brauchen, als:
Erstens, welche reine Wirkung bringt eine jede vor sich in dieser und jener
Gabe im gesunden menschlichen Körper hervor?
Zweitens, was lehren die Beobachtungen ihrer
Wirkung in dieser oder jener, einfachen oder verwickelten Krankheit?
Den letztern Zweck erreichen zum Theil die praktischen Schriften der besten
Beobachter aller Jahrhunderte, besonders der neuern Zeiten. In ihnen ist der bisher
einzige Vorrath ächter Kenntniß der Kräfte der Arzneien in Krankheiten
zerstreut enthalten, ...
Vorschlag für ein neues Prinzip zur Verordnung von
Arzneien
... Weil es aber dann doch wohl noch an einem Schlüssel
fehlen möchte, so bin ich hier vielleicht so glücklich, das Prinzip
darzulegen, nach welchem man zu Werke gehen könnte, um zur Ausfüllung
der Lücken in der Heilkunde und zu ihrer Vervollkommnung allmählig für
jedes, vorzüglich chronisches Uebel ein passendes spezifisches ... Heilmittel
aus dem bisher bekannten (und dem noch unbekannten) Arzneivorrathe nach Gründen
heraus zu finden und nach Gründen anzupassen. Es beruht ungefähr auf
Folgendem:
Jedes wirksame Arzneimittel erregt
im menschlichen Körper eine Art von eigner Krankheit , eine desto eigenthümlichere,
ausgezeichnetere und heftigere Krankheit, je wirksamer die Arznei ist.
*)
*) Die wirksamsten, spezifische Krankheit erregenden,
folglich hülfreichsten Arzneien nennt der Laie Gifte.
Man ahme der Natur nach, welche zuweilen eine chronische
Krankheit durch eine andre hinzukommende heilt, und wende in der zu heilenden
(vorzüglich chronischen) Krankheit dasjenige Arzneimittel an, welches
eine andre, möglichst ähnliche, künstliche Krankheit zu erregen
im Stande ist, und jene wird geheilet werden; Similia similibus. ...
... Dieser Satz hat, ich gestehe es, so sehr das Ansehn einer
unfruchtbaren, analytischen, allgemeinen Formel, daß ich eilen muß,
ihn synthetisch zu erläutern. Vorerst aber noch einige Erinnerungen. ...
... Nach diesen Vorerinnerungen gehe ich fort, meinen Grundsatz,
daß man, um die wahren Heilkräfte einer Arznei für chronische
Krankheiten auszufinden, auf die spezifische künstliche Krankheit sehen müsse,
die sie im menschlichen Körper zu erregen pflegt, um sie dann einer sehr
ähnlichen kränklichen Körperverfassung anzupassen, die gehoben
werden soll – durch Beispiele zu erläutern.
Auch der sehr ähnliche Satz, daß man, um gewisse,
chronische Krankheiten gründlich zu heben, sich nach Arzneien umsehen müsse,
die eine ähnliche, am besten sehr ähnliche, Krankheit im menschlichen
Körper zu erregen pflegen – wird dadurch ins Licht gesetzt werden. ...
Kommentar:
Soweit der theoretische erste Teil des Artikels. Im zweiten
Teil seines Artikels in der nächsten Ausgabe von Hufelands Journal versucht
Hahnemann seine im ersten Teil vorgetragenen Thesen durch zahlreiche Beispiele
zu belegen. So schildert er die Wirkungen damals verwendeter Arzneien auf Gesunde
(bzw. Vergiftungen) und deren mögliche Verwendung nach den von ihm benannten
Kriterium der Ähnlichkeit. Er bezieht sich auf zahlreiche Fälle aus
der zeitgenössischen medizinischen Literatur und beruft sich auch auf eigene
Erfahrungen und auf Versuche, in denen er Arzneien an sich selbst und anderen
geprüft hatte. Auch hier weist er auf Mißstände in der damaligen
Medizin hin, wie z. B. auf die durchaus häufige Überdosierung von Digitalis,
auf die Verwechslung von Quecksilbervergiftungen mit der Syphilis usw. Er schildert
auch einige Heilungen unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit.
© Copyright: photo of Hahnemann
- H.I.
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