Erster Teil des Artikels in Hufelands Journal 1796, II. Band, Drittes Stück, S. 391-439 [zum zweiten Teil]
E i n l e i t u n g :
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Arbeit Hahnemanns wird heute oft
als das Geburtsjahr der Homöopathie bezeichnet. Erstmals stellt er hier klar
und logisch das Ergebnis seiner jahrelangen Forschungen dar.
Zunächst beschäftigt er sich mit den damals üblichen Methoden der
Arzneifindung. Er verwirft - selbst mit der Chemie seiner Zeit vertraut - chemische
Experimente, die z. B. Verfärbungen an entnommenem menschlichem Blut durch
Arzneien beobachten, verweist auf sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten der Chemie.
Er sieht Tierversuche als sinnlos an, da sie auf Menschen nicht übertragbar
seien - "... So tödlich für Menschen auch die Taxusblätter
sind, so werden doch Hausthiere davon fett ...". Er betrachtet den Weg der
rohen Empirie und verwirft ihn als unzureichend. Er untersuchte die botanische
Verwandtschaft der Arzneien, aber auch diese läßt keine ausreichenden
Schlüsse auf Arzneiwirkungen zu. So kommt er zu dem Schluß, daß
nichts anderes bleibt, als die Arzneiwirkung am menschlichen Körper selbst
zu erproben, was er zu diesem Zeitpunkt bereits mit vielen Stoffen getan hatte,
vor allem an sich selbst und an seiner leidgeprüften Familie. Schließlich
betrachtet er verschiedene Wege der Arzneianwendung und kommt zu Ergebnissen,
das die nun über 200 Jahre währende Geschichte der Homöopathie
beginnen läßt.
I n h a l t :
Bisherige Methoden, Arzneiwirkungen zu erforschen: - Chemie
( Nutzen; unzulängliche Versuche;
) - Tierversuche - sinnliche äußere
Merkmale - botanische Verwandtschaft mit Beispielen
- Weg der Empirie . Wege zur Auffindung
der uns noch fehlenden Arzneikräfte? Spezifika für
bestimmte Krankheiten gibt es nicht
Bisherige Methoden zur Verordnung von Arzneien: Bisherige
drei Wege zur Anpassung der Heilmittel an menschliche Beschwerden
Neue Wege zur Erforschung von Arzneiwirkungen: Erforschung
der Arzneien am menschlichen Körper
Vorschlag für ein neues Prinzip zur Verordnung von Arzneien: Anwendung
dieser Erkenntnisse Erläuterung I. bis IV.
Schluß
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Zu Anfange dieses Jahrhunderts that man, vorzüglich die Akademie der Wissenschaften
zu Paris, der Scheidekunst die unverdiente Ehre an, sie als Entdeckerin der Heilkräfte
der Arzneien, vorzüglich der Pflanzen, in Versuchung zu führen. Man
trieb die Pflanzen in Destillirgefäßen gewöhnlich ohne Wasser,
mit Feuergewalt und erzwang dadurch – aus den giftigsten wie aus den unschuldigsten
– ziemlich einerley Produkte. Wasser, Säure, brenzliche Oele, Kohle und aus
dieser Laugensalz; immer von einer Art. Man verschwendete große Summen über
dieser Pflanzenzerstörung, ehe man einsahe, daß man auf diesem Wege
keine wesentlichen Bestandtheile der Vegetabilien ziehen, am wenigsten aus diesen
Feuerproben auf die Heilkräfte der Pflanzen schließen könne. Diese
fast ein halbes Jahrhundert hindurch mit verschiedenen Abwechselungen getriebne
Thorheit machte allmählig auf die, über chemische Kunst und ihre Gränzen
indeß erhelleten Aerzte einen so widrigen Eindruck, daß sie zu der
gegenseitigen Behauptung fast mit Einer Stimme übergingen, und der Chemie
allen Werth bei Entdeckung der Heilkräfte der Arzneien, und der Ausfindung
von Hülfsmitteln gegen Beschwerden des menschlichen Körpers absprachen.
Hierin gingen sie aber offenbar zu weit. So wenig ich dieser Kunst einen allgemeinen Einfluß auf die Materia medica einräumen werde, so kann ich doch nicht unberührt lassen, daß man ihr einige wichtige Entdeckungen in dieser Absicht zu danken habe, und was sie etwa künftig noch dafür thun könne.
Die Scheidekunst sagte dem Arzte, der ein Palliativmittel wider die Beschwerden von krankhafter Säure im Magen suchte, daß die Laugensalze und einige Erden Heilkraft dagegen besäßen. – Es waren verschluckte Gifte im Magen zu zerstören; der Arzt verlangte von der Chemie, solche Gegenmittel darzureichen, die jene schnell zerstörten, ehe sie den Speisekanal und die ganze Maschine zerstörten. Nur die Chemie konnte ihm Auskunft geben, daß in den Laugensalzen und der Seife das Gegenmittel der sauern Gifte, des Vitriolöls, der Salpetersäure, des Arseniks, so wie der giftigen Metallsalze – daß in den Säuren das Gegengift der Laugensalze, des gebrannten Kalks, u. s. w. liege, und daß überhaupt zur schnellen Zähmung aller Metallgifte der Schwefel, die Schwefelleber, vorzüglich aber die Schwefelleberluft wirksam sei.
In Höhlen des menschlichen Körpers gerathenes Blei und Zinn lehrte sie durch lebendiges Quecksilber ausleeren, verschlucktes Eisen durch Säuren und verschlucktes Glas und Kieselsteine durch Flußspat – und Phosphorsäure auflösen, so wie leztere es im Magen der Hüner thut.
Die Chemie stellte die Lebensluft in ihrer Reinheit dar, und da der Physiologie und Kliniker ihre besondre, Lebenskraft erhaltende und erhöhende, Kraft wahrnahm, zeigte sie, daß ein Theil dieser Kraft in dem so großen spezifischen Wärmestoffe dieser Luft enthalten sei, und lieferte dann diese Luft, was die therapeutische Materia medica, und die Erfahrung am Krankenbette nicht vermochte, aus einer Menge Quellen in immer größrer Reinigkeit.
An Luftsäure Erstickten konnte nur die Chemie ein Hülfsmittel ausfindig machen an den Dünsten des kaustisch - flüchtigen Laugensalzes.
Was wollte wohl die Galenische Schule in die Lungen der von Kohlendunst Erstickten Hülfreiches einblasen, wenn die Chemie nicht das wahre Hülfsmittel dargereicht hätte – die einzublasende Lebensluft als den zweiten Bestandtheil der Athemluft?
Selbst den Resten der Gifte in den zweyten Wegen wußte sie ein Zerstörungsmittel auszufinden an der Schwefelleberluft, in Getränken und Bädern angebracht.
Wer lehrte die vor Auflebung der Chemie oft unbezwinglichen, eine Menge der schwierigsten Krankheiten erzeugenden Gallensteine auflösen? (mit Salpeteräther und Pottaschessigsalz) wer anders als die Scheidekunst?
Wer anders als die Chemie ward seit Jahrhunderten von der Heilkunde um ein Mittel wider den Blasenstein befragt? Ob mit Erfolge? Dieß lag an dem Befragenden. Indeß hat sie doch mehr als nichts dagegen gethan, da sie die mit Luftsäure übersättigte Laugensalzauflösung in Vorschlag brachte. Sie wird noch ein gewisseres Heilmittel im Gebrauche der Phosphorsäure erfinden.
Sollen alle mögliche vorhandne Arzneimittel zur Probe auf Brüste gelegt werden, welche geronnene Milch schmerzhaft macht? Dies wäre ein unübersehlicher, vergeblicher Weg. Die Scheidekunst weiß durch Umschläge von flüchtigem Laugensalze ein wahres Heilmittel anzugeben, was geronnene Milch wieder flüssig macht.
Die chemischen Versuche mit Columbowurzel und verdorbner Galle zeigten, daß jenes Gewächs ein Verbesserungsmittel verdorbner Galle im Organismus seyn müsse, und die arzneiliche Erfahrung hat die Richtigkeit des chemischen Schlusses eingesehn.
Will die Therapie wissen, ob ein neues Heilmittel das Blut erhitze, so giebt die Destillation mit Wasser durch Entscheidung der Gegenwart oder des Mangels eines ätherischen Oels die Antwort, die wenigen Ausnahmen abgerechnet.
Die Praxis kann durch ihre sinnlichen Merkmale oft gar nicht erkennen, ob ein Gewächs etwas Zusammenziehendes enthalte. Die Chemie entdeckt das, in der Praxis oft nicht gleichgültige, zusammenziehende Wesen, und selbst seine Grade durch Eisenvitriol.
Die Diätetik weiß nicht, ob ein neues Gewächs etwas Nahrhaftes enthält. Die Chemie zeigts durch Ausziehung des Gewächsleims, und des Stärkemehls, und kann die Grade seiner Nahrhaftigkeit durch die Menge dieser Stoffe anzeigen.
Wo auch die Chemie nicht direkte die Heilkräfte angeben kann, thut sie ´s doch indirekte, wenn sie die aus Mischungen entstehende Unkräftigkeit vor sich wirksamer Arzneien, oder die Schädlichkeit der Vermischung vor sich unschuldiger Mittel anzeigt. Sie verbietet, wenn man durch Brechweinstein Ausleerung von oben erregen will, Substanzen zuzusetzen, welche Galläpfelsäure enthalten, die ihn zersetzt; sie verbietet Kalkwasser zu trinken, wo man Nutzen von den zusammenziehenden Theilen der Chinarinde erwartet, die durch jenes zerstört werden; sie verbietet, um nicht eine Dinte zu bereiten, China und Eisen zusammen in einem Getränke anzubringen; sie verbietet das Goulardische Wasser durch Zusatz von Alaun kraftlos zu machen; sie verbietet die Zumischung irgend einer Säure zu den laxirenden, Säure der ersten Wege hebenden Mittelsalzen, welche Weinsteinrahm zur Grundlage haben; sie verbietet die sonst unschuldigen Dinge, schweißtreibenden Spiesglanz (vorzüglich alten) und Weinsteinrahm, durch Mischung zum Gifte zu machen; sie verwirft bei Milchdiät den Gebrauch der vegetabilischen Säuren (die einen unauflöslichen Käse bilden) und verweiset, wenn Säuren dabei nötig sind, auf die Vitriolsäure.
Sie kennt die Zeichen der trüglichen Verfälschung der Arzneimittel, zieht den giftigen Aezsublimat aus dem Kalomel, und lehrt diesen von dem ihm im Aeußern so ähnlichen, giftigen, weißen Präzipitat unterscheiden.
Doch es mag an diesen wenigen Beispielen genug seyn, die Ausschließung der Chemie von der Entdeckung der Heilkräfte der Arzneien zu widerlegen. Daß man aber die Chemie nicht über Arzneykräfte zu Rathe ziehe, welche nicht auf unmittelbar zu verändernde schädliche Substanzen im menschlichen Körper, sondern auf Veränderungen gehen, wo die Verrichtungen der thierischen Haushaltung erst mitwirken sollen, beweisen unter andern die Versuche mit den antiseptischen Mitteln, von denen man wähnte, sie würden in der Säftmasse gerade die fäulnißwidrige Kraft beweisen, als sie in der chemischen Phiole thaten. Aber die Erfahrung zeigte z.B. daß der, ausser dem Körper so sehr fäulnißwidrige Salpeter im faulen Fieber und in brandiger Disposition gerade das Gegenteil thue, aus dem nicht hieher gehörigen Grunde, weil er die Lebenskraft schwächt. Oder wollte man faulige Stoffe im Magen damit bessern? Diese nimmt ein Brechmittel sichrer hinweg.
Weit schlimmer haben diejenigen die Materia medica berathen, welche einen Weg zur Ausfindung der Heilkräfte in der Zumischung der unbekannten Arzneien zu dem aus der Ader gelassenen Blute suchten, um zu sehen, ob das Blut heller oder dunkler, flüßiger oder gerinnbarer werde. Gleich als ob wir die Arzneien zu dem Blute in der Ader unmittelbar bringen könnten, als sie in ihrer Probeschale thun! Gleich als ob die Arzneien nicht erst unglaubliche Aenderungen im Verdauungskanale erleiden müßten, ehe sie (und immer noch erst durch einige Umwege) ins Blut gelangen könnten! Wie verschiedenes Ansehn erhält nicht das aus der Ader gelassene Blut schon vor sich, je nachdem es aus einem erhitzten oder ruhigern Körper, aus einer kleinen oder größern Aderöffnung, im Sprunge oder tröpfelnd, in einem kalten oder warmen Zimmer, in ein flaches oder enges Gefäß gelassen wird?
Doch solche kleinliche Erforschungswege der Arzneiheilkräfte tragen schon selbst das Gepräge ihrer Nichtigkeit an sich.
Selbst die Einspritzung der Arzneimittel in die Adern der Thiere ist aus eben dieser Ursache eine sehr heterogene und unsichre Methode. Nur eines einzigen Umstandes zu gedenken, so bringt ein Theelöffel konzentrirtes Lorberkirschwasser ein Kaninchen fast gewiß ums Leben, wenn es in den Magen kömmt, in die Drosselader eingespritzt aber zeigt es keine Veränderung; das Thier bleibt munter und wohl.
So wird dann aber wohl die Einflössung in den Mund der Thiere etwas Gewisses über ihre arzneilichen Wirkungen lehren? Bei weitem nicht! Wie sehr weicht nicht ihr Körper von dem unsrigen ab! Eine große Menge Krähenaugen verträgt ein Schwein ohne Schaden, und von 15 Gran sind schon Menschen gestorben. Ein Hund vertrug eine Unze frische Blätter, Blüthen und Saamen von Napellsturmhut, welcher Mensch würde nicht davon sterben? Die Pferde fressen das trockne Kraut davon ohne Schaden. So tödlich für Menschen auch die Taxusblätter sind, so werden doch Hausthiere davon fett. Und wie kann man auch Schlüsse von den Wirkungen der Arzneien bei Thieren auf die Wirkungen bei Menschen machen, da sie oft so sehr selbst unter den Thieren von einander abweichen? Den Magen eines mit Napellsturmhut getödeten Wolfs fand man entzündet, den einer großen und einer kleinen Katze aber nicht, ob sie gleich ebenfalls damit getödet worden waren. Was läßt sich daraus schließen? Gewiß nicht viel, wenn ich auch nicht sagen wollte, nichts. – Wenigstens ist so viel gewiß, daß die feinern innern Aenderungen und Empfindungen, die der Mensch durch Worte ausdrücken kann, bei Thieren ganz wegfallen.
Um zu prüfen, ob eine Substanz sehr heftige oder gefährliche Wirkungen hervorbringe, das läßt sich im allgemeinen wohl (bei Versuchen an mehrern Thieren zugleich) wahrnehmen, auch wohl etwas in die Sinne fallendes, allgemeines von Wirkungen auf Bewegung der Glieder, Kälte oder Hitze, Oeffnung von oben oder unten u. d. gl. aber etwas Zusammenhängendes, Entscheidendes nie, was Einfluß auf die Beurtheilung der eigentlichen Heilkraft des Mittels bei Menschen haben könnte. Dazu sind solche Versuche zu dunkel, zu roh, und, wenn ich so sagen darf, zu plump.
Da die erwähnten Erfoschungsquellen der Heilkräfte der Arzneien so leicht versiegten, so dachte der Systematiker der Arzneimittellehre auf andre, wie ihm dünkte, sicherer Art. Er suchte sie in den Arzneisubstanzen selbst auf, er wähnte da Winke zu finden, die ihn leiten sollten. Er bedachte aber nicht, daß die sinnlichen äussern Merkmale derselben oft sehr trüglich sind, so trüglich, als die Physiognomik bei Errathung der Herzensmeinungen.
Die Lurida sind bei weitem nicht immer giftig, so wenig im Gegentheile die angenehmen Farben der Pflanzen etwas für ihre Unschuld beweisen. Auch die speziellern Eigenschaften der Droquen, von denen Geruch und Geschmack urtheilen kann, können keine zuverläßigen Schlüsse bei noch unversuchten Substanzen erlauben. So wenig ich diesen beiden Sinnen ihre Brauchbarkeit zur Bestätigung schon aus andern Gründen bekannter oder vermuthlicher Arzneitugenden absprechen will, so viel Behutsamkeit rathe ich auf der andern Seite denen an, welche nach ihnen allein Urtheile fällen wollen. Soll das bittere Grundwesen den Magen stärken, warum schwächt ihn die Squille? Sollen die bitter aromatischen Substanzen erhitzen, warum vermindert der Sumpfporst die Lebenswärme in so hohem Grade? Wenn nur diejenigen Gewächse, die mit Eisenvitriol Dinte geben, adstringierend seyn sollen, warum giebt das höchst zusammenziehende Wesen in den Quitten, den Mispeln u. s. w. keine Dinte?
Soll der adstringirende Geschmack einen Stärkunsstoff anzeigen, warum erregt der Zinkvitriol Erbrechen? Sind die Säuren fäulnißwidrig, warum bewirkt der Arsenik eine so schnelle Fäulnis in den damit vergifteten Körpern? Ist das Süße etwa auch im Bleizucker nahrhaft? Sind ätherische Oele und das, was feurig auf der Zunge schmeckt, auch für das Blut erhitzend, warum thun der Aether, der Kampher, das Kajeputöl, das Pfeffermünzöl, und das ätherische Oel der bittern Mandeln und der Lorberkirsche das Gegentheil? Erwartet man von den giftigen Pflanzen einen widrigen Geruch, warum ist er so unbedeutend im Napellsturmhut, der Belladonna, und dem Fingerhute, warum so unmerklich in den Krähenaugen, der Gummigutte? Erwartet man von den giftigen Pflanzen einen widrigen Geschmack, warum ist der so äusserst schnell tödliche Saft der Wurzel der Iatropha Manihot blos süßlicht und nicht im mindesten scharf? Wenn die ausgepreßten, fetten Oele oft schmeidigend sind, folgt daraus, daß sie es alle sind, etwa auch das inflammatorische aus dem Saamen der Iatropha Curcas gepreßte? Sollen die Substanzen, welche wenig oder keinen Geruch und Geschmack haben, ohne Arzneikraft seyn, wie stimmt das mit der Ipekakuanhe, dem Brechweinstein, dem Viperngifte, der Stickluft und der kräftigen Lopezwurzel überein? Wer will die Zaunrübe für ein Nahrungsmittel aus dem Grunde ansehn, weil sie viel Stärkemehl enthält?
Vielleicht erlaubt aber die botanische Verwandschaft einen sichern Schluß auf die Aehnlichkeit der Wirkung! Sie erlaubt ihn eben so wenig, als viele Ausnahmen von entgegengesetzten oder doch sehr abweichenden Kräften in einer und derselben Pflanzenfamilie und in den meisten derselben es giebt. Wir wollen das vollkommenste natürliche System, das Murrayische, zum Grunde legen.
In der Familie der Coniferae giebt die innere Rinde der Kienfichte (Pinus sylvestris) den nördlichsten Völkern eine Art Brod, während die Rinde des Beereibenbaums (Taxus baccifera) den Tod giebt. - Wie kömmt die brennende Wurzel der Bertramkamille (Anthemis Pyrethrum) mit dem tödlich kältenden Giftlattich (Lactuca virosa), so wie das Erbrechen erregende Speykreuzkraut (Senecio vulgaris) mit der milden Skorzonere, die kraftlose Sand-Rainblume (Gnaphalium arenarium) mit dem heroischen Fallkrautwohlverlei (Arnica montana) in Eine Familie (der Compositae)? – Hat wohl die purgierende Strauchkugelblume (Globularia Alypum) etwas mit der unkräftigen Statice in der Familie Aggregatae gemein? – Läßt sich von der Zuckerwurzel (Sium Sisarum) etwas ähnliches als von der Wurzel der giftigen Nebendolde (Oenanthe) oder des Giftwütherichs (Cicuta virosa) erwarten, weil sie zusammen in der Schirmfamilie stehen? – Hat wohl (in der Familie hederaceae) der gar nicht unschuldige Ewigepheu (Hedera Helix) mehr Aehnlichkeit mit der Edelweinrebe (Vitis vinifera) als etwa im äussern Wuchse? – Wie kömmt der kraftlose Brusch (Ruscus) mit dem betäubenden Kockelmendsaamen (Menispermum Cocculus), dem erhitzenden Osterluzey (Aristolochia) und dem Brechhaselkraute in Eine Familie (der Sarmentaceae)? – Läßt sich vom Klebmeyer (Galium Aparine) etwas ähnliches als von der oft tödlichen Spigelia marylandica erwarten, weil sie beide unter den Stellatae stehen? – Welche Aehnlichkeit der Wirkung findet man zwischen der Melone (Cucumis Melo) und der Eselspringgurke (Momordica Elaterium) aus derselben Familie Cucurbitaceae? – Und nun in der Familie Solanaceae, wie paaret sich die schmacklose Königskerze (Verbascum Thapsus) mit der brennenden Sommerbeißbeere (Capsicum annuum) oder der die ersten Wege krampfende Tabak mit den die natürlichen Bewegungen des Darmkanals hemmenden Krähenaugen (Strychnos Nux vomica)? – Wie will man das unarzneiliche Bärwinkelsingrün (Vinca pervinca) neben dem betäubenden Unholdoleander (Nerium oleander) stellen in der Familie Contortae? – Wirkt der wässerige Pfennigweiderich (Lysimachia Numularia) der Fieberkleeblume (Menyanthes trifoliata) ähnlich, oder die unkräftige Primelschlüsselblume (Primula veris) dem drastischen Erdscheibeschweinsbrode (Cyclamen europaeum) in der Familie Rotaceae? – Läßt sich von den Eigenschaften der die Harnwege stärkenden Sandbeerbärentraube (Arbutus Uvaursi) auf die des erhitzend betäubenden Schneerosegichtstrauchs (Rhododendron Chrysanthum) in der Familie Bicornes schließen? – Ist in den Verticillatae die kaum etwas adstringirende Gottheilbraunelle (Prunella vulgaris) und der unschuldige Kukukgünsel (Ajuga pyramidalis) mit dem ätherischen Katzengamander (Teucrium Marum) oder dem feurigen Kreterdost (Origanum creticum) nur in irgend einem Betrachte zu vergleichen? – Wie ist der Traubenkrauteiserich ( Verbena officinalis) mit dem heftigen Wildaurin (Gratiola offincinalis) an Kräften verwandt in der Familie Personatae? – Wie weit entfernt sich die Glycyrrhiza von der Geoffroya in der Wirkung, obgleich in derselben Familie Papilionaceae? – In welcher Parallele stehen in der Familie Lomentaceae die Eigenschaften der Soodbrodkarobe (Ceratonia Siliqua) mit denen des Taubenkropferdrauchs (Fumaria officinalis), des Senegawamsels (Polygala Senega) oder des Perubalsambaums (Myroxylon peruiferum)? – Oder gleichen sie etwa der Garteneichel (Nigella sativa) und die Gartenraute (Ruta graveolens), die Pfingstrosenpäone (Paeonia officinalis) und der Gifthahnefuß (Ranunculus scleratus) auch nur im mindesten an Kräften, obgleich allesamt aus der Familie Multisiliquae? — Den Filipendelwedel (Spiraea Filipendula) und die Rothheiltormentille (Tormentilla erecta) vereinigt die Familie Senticosae und doch, wie unähnlich an Eigenschaften? – Der Johannisbeerribes (Ribes rubrum) und die Lorberkirsche (Prunus laurocerasus), der Vogelbeerspierling (Sorbus acuparia) und die Pfirschmandel (Amygdalus perfica), wie ungleich an Kräften, und doch in derselben Familie Pomaceae! – Die Familie Succulentae vereinigt die Mauerpfefferfetthenne (Sedum acre) und den Gemüßportulak (Portulaca oleracea), gewiß nicht wegen ähnlicher Wirkungen! – Wie kömmt der Storchschnabel mit dem Purgirlein (Linum catharticum), der Sauerkleelujel (Oxalis acetosella) mit der Bitterquassie (Quassia amara) in eine und dieselbe Familie? doch nicht wegen Aehnlichkeit der Kräfte? – Wie ungleichartig an Arzneikraft sind alle die Glieder der Familie Ascyroideae! – und die der Dumosae! – und die der Trihilatae! – In der Familie Tricoccae, was hat da die fressende Euphorbienwolfsmilch (Euphorbia officinalis) mit dem für die Nerven nicht gleichgültigen Buchsbaum (Buxus sempervirens) für Gemeinschaft? – Das unschmackhafte Glattbruchkraut (Herniaria glabra), die scharfe Kermesphytolacke (Phytolacca decandra), der erquickende Ambergänsefuß (Chenopodium ambrosioides) und der brennende Wasserpfefferknöterich (Polygonum hydropiper), welche Gesellschaft (in der Familie Oleraceae)! – Wie ungleich wirkend sind die Scabridae! – Was soll die blos schleimig milde Weißlilie (Lilium candidum) neben dem Knoblauch (Allium sativum) oder die Meerzwiebel (Scilla maritima), was der Eßspargel (Asparagus officinalis) neben der giftigen Weißnieswurzel (Veratrum album) in der Familie Liliaceae? –
Ich bin weit entfernt, zu verkennen, wie viel wichtige Winke gleichwohl das natürliche System dem philosophischen Arzneimittellehrer geben kann, und der den Beruf fühlt, neue Arzneimittel aufzufinden, aber diese Winke helfen doch nur entweder schon bekannte Thatsachen bestätigen, und kommentieren, oder sie vereinigen sich bei noch unversuchten Pflanzen erst zu hypothetischen Muthmaßungen, denen noch viel an einer der Zuverläsigkeit sich nähernden Wahrscheinlichkeit abgeht.
Doch wie will man durchgängige Wirkungsähnlichkeit bei Pflanzengruppen erwarten, die oft nur nach kleinen äusserlichen Aehnlichkeiten in dem sogenannten natürlichen Systeme zusammengestellt sind, da selbst weit näher mit einander verwandte Gewächse, Pflanzen Einer und derselben Gattung sich zuweilen so ungleich an arzneilicher Wirkung sind. Die Arten der Gattung Impatiens, Serapias, Cytisus, Ranunculus, Calamus, Hibiscus, Prunus, Sedum, Cassia, Polygonum, Convallaria, Linum, Rhus, Seseli, Coriandrum, Aethusa, Sium, Angelica, Chenopodium, Asclepias, Solanum, Lolium, Allium, Chenopodium, Rhamnus, Amygdalus, Rubus, Delphinium, Sisymbrium, Polygala, Teucrium, Vaccinium, Cucumis, Apium, Pimpinella, Anethum, Scandix, Valeriana, Anthemis, Artemisia, Centaurea, Juniperus, Brassica mögen Beispiele seyn. Welcher Unterschied zwischen dem unschmackhaften Zunderlöcherschwamm (Boletus igniarius) und dem bittern, drastischen Lerchenlöcherschwamm (Boletus laricis), zwischen dem Reiskerblätterschwamm (Agaricus deliciosus) und dem Fliegenblätterschwamm (Agaricus muscarius), zwischen der holzigen Steinflechte (Lichen saxatilis) und der kräftigen Isländerflechte (Lichen islandicus)!
So gern ich auch zugebe, daß im Allgemeinen Aehnlichkeit der Wirkung weit öfterer bei Arten einer Gattung, als zwischen ganzen, gruppenweise im natürlichen System zusammengestellten Geschlechtern anzutreffen ist, und daß ein Schluß auf ersterm Wege weit mehr Aehnlichkeit vor sich habe, so drängt mich doch meine Ueberzeugung zu warnen, daß, wenn es auch noch soviel Geschlechter gäbe, deren Arten große Aehnlichkeit in ihren Wirkungen mit einander gemein hätten, uns die kleinere Zahl der sehr ungleich wirkenden doch sehr mistrauisch gegen diese Art zu schließen machen müsse, da es hier keinem Fabrikversuche, sondern der wichtigsten und schwierigsten Angelegenheit des Menschen, der Gesundheit, gilt. *)
*) Um so bedenklicher wird der Schluß auf Wirkungsähnlichkeit zwischen Arten einer Gattung, da sogar eine und dieselbe Art, eine und dieselbe Pflanze in ihren verschiedenen Theilen zuweilen sehr abweichende Arzneikräfte zeigt. Wie sehr weicht der Mohnkopf vom Mohnsaamen, die aus den Blättern der Lerchenfichte schwitzende Manna von dem Lerchenterbenthin, der kühlende Kampher in der Wurzel des Zimmtlorbers von dem brennenden Zimmtöle, der adstringirende Saft in den Früchten verschiedner Mimosen von dem schmacklosen, aus ihrem Stamme dringenden Gummi, der ätzende Stengel des Gifthahnefuß von seiner milden Wurzel ab!
Also, auch dieser Weg ist nicht als sichtbarer Grundsatz zur Ausmittelung der Arzneikräfte der Pflanzen zu befolgen.
Es bleibt uns nichts, als die Erfahrung am menschlichen Körper übrig. Aber welche Erfahrung? Die ungefähre, oder die geflissentliche?
Die meisten Tugenden der Arzneikörper sind, ich lege dieß demüthigende Geständnis ab, durch ungefähre, empirische Erfahrung entdeckt worden, durch Zufall, oft durch Nichtärzte zuerst bemerkt. Dreiste, oft allzu dreiste Aerzte machten dann nach und nach Proben damit.
Ich bin gar nicht willens, diesem Entdeckungswege der Arzneikräfte seinen hohen Werth abzusprechen; die Sache redet von selbst. Aber für uns giebt es dabei nichts zu thun; Zufall schließt allen Vorsatz, alle Selbstthätigkeit aus. Traurig ist der Gedanke, auf die Diskretion des Ungefährs, die immer eine Menge befährdete Menschenleben voraussetzt, die edelste, unentbehrlichste Kunst gebaut zu sehen. Reicht der Zufall solcher Entdeckungen zur Vervollkommnung der Arzneikunde, zur Ergänzung der Lücken hin? Von Jahr zu Jahr lernen wir neue Krankheiten, neue Wendungen und Verwickelungen von Krankheiten, neue Krankheitszustände kennen, haben wir nun keinen, mehr in unsrer Gewalt stehenden, Weg zur Auffindung der Hülfsmittel vor uns, als den der Zufall uns gestattet, so bleibt uns nichts übrig, als sie mit allgemeinen (dafür möchte ich oft wünschen, gar keinen) oder solchen Mitteln zu behandeln, die in uns ähnlich dünkenden Krankheiten, und ähnlich scheinenden Krankheitszuständen sonst wohl dienlich geschienen haben. Wir verfehlen aber oft des Zwecks, weil eine veränderte Sache nicht dieselbige ist. Traurig sehen wir vor uns hin in die kommenden Jahrhunderte, wo ein eigenthümliches Heilmittel für diese besondre Krankheit, für diese besondre Krankheitswendung, für diesen besondern Umstand vom Zufall vielleicht entdeckt werden wird, wie für das reine Wechselfieber die Rinde, oder für die Lustseuche das Quecksilber.
Eine so prekäre Bildung der wichtigsten Wissenschaft, -- wie etwa der Zusammenflug der Epikurischen Atome zur Weltentstehung – konnte des weisesten und gütigsten Menschenerhalters Wille nicht seyn. Es wäre sehr demüthigend für das erhabne Menschengeschlecht, wenn seine Erhaltung blos vom Zufalle abhangen sollte. Nein! es ist erquickend, zu denken, daß es für jede besondre Krankheit, jede eigenthümliche Krankheitsverfassung eigenthümliche, direkt hülfreiche Mittel gebe, und auch Wege, sie geflissentlich ausfindig zu machen.
Wenn ich die geflissentliche Ausfindung der uns noch fehlenden Arzneikräfte nenne, so meyne ich nicht jene empirischen, gewöhnlich in Spitälern angestellten Proben, wo man bei dem oder jenen schwierigen, oft gar nicht genau beobachteten Falle, in welchem das Bekannte nicht helfen will, zu irgend einer, entweder überhaupt, oder doch bei diesem Umstande unversuchten Droque greift, vom Gerathewohl und blinden Einfällen, oder doch von so sehr dunkeln Ahndungen geleitet, von denen man weder sich noch Andern Rechenschaft zu geben im Stande ist. Solche empirische Wagstücke sind, mit dem gelindesten Nahmen belegt, thörichtes Würfelspiel, wo nicht gar etwas noch schlimmeres.
Auch von den etwas rationellern Versuchen schon hie und da empirisch gegen diese oder jene Krankheitszustände obenhin gelobter, weiter aber nicht geprüfter Mittel in der Privatpraxis und in Spitälern rede ich hier nicht. Sie geschehen zwar auch, wenn nicht einige kunstmäßige Gründe des Verfahrens zum Leitfaden genommen werden, zum Theil auf Gefahr der Gesundheit und des Lebens der Kranken, aber die Behutsamkeit und das praktische Genie des Arztes kann doch viel Unebnes seiner halbempirischen Unternehmungen wieder ins Geleise bringen.
Da wir schon eine große Menge Arzneimittel haben, von denen wir wohl sehen, daß sie wirksam sind, aber nicht recht wissen, was sie etwa für Krankheiten heben könnten, und wieder andre, die in genannten Krankheiten bald geholfen bald nicht geholfen haben, und von denen wir noch keine deutlichen Begriffe haben, wo sie genau und am rechten Orte anzupassen sind, so möchte es vor der Hand gar nicht nöthig seyn, den Arzneivorrath in der Zahl zu vermehren. Sehr wahrscheinlich lieget in den schon vorhandnen alle (oder doch beinahe alle) die Hülfe, die uns noch gebricht.
Ehe ich mich aber weiter erkläre, muß ich, mich zu verwahren, das Bekenntniß ablegen, daß ich für keine, so und so genannte, Krankheit überhaupt mit allen den Ausdehnungen, Nebenzufällen und Abweichungen überladen, die man in Pathologien nur gar zu gern in ihren essentiellen Charakter, als unveräusserliche Pertinenzstücke, unvermerkt einzuschieben pflegt, ein durchgängig spezifisches Mittel erwarte, auch nicht glaube, daß es dergleichen geben könne. Nur die so große Einfachheit und Selbständigkeit der Wechselfieber und der venerischen Krankheit konnten Gegenmittel finden, die sich in den Augen vieler Aerzte als spezifisch qualifizirten, da die Abweichungen in diesen Krankheiten weit seltner oder unbedeutender zu seyn pflegen, als in andern, folglich auch Rinde und Quecksilber weit helfen, als nicht helfen mußten. Aber spezifisch sind weder die Rinde im Wechselfieber weitläufigsten Verstandes, *)
* Nur Schade, daß man nicht einsahe, warum z.B. von den etwa 7/15 aller der sogenannten Wechselfieber, gegen die die Rinde nichts vermochte, drey Funfzehntel Krähenaugen, oder bittere Mandeln, andre Funfzehntel Mohnsaft, ein andres Funfzehntel Aderlaß und noch ein andres Funfzehntel kleine Gaben Brechwurzel zur Heilung erforderten! Man begnügte sich zu sagen, "Rinde half nicht, aber Ignatzbohne half"; warum? das hören wir nicht deutlich. War es ein reines Wechselfieber, so mußte die Rinde helfen; bei der Komplikation mit übermäßiger Reitzbarkeit, vorzüglich der ersten Wege aber, war es kein reines Wechselfieber mehr, da konnte sie nicht helfen, da mußte man aus Gründen Ignatzbohne, Krähenaugen oder bittre Mandeln, je nach dem verschiednen Körperzustande, zum Heilmittel oder zum Beimittel wählen, und durfte und sollte sich gar nicht wundern, daß Rinde nicht half.
noch das Quecksilber in der venerischen Krankheit weitläuftigsten Verstandes; spezifisch aber vermuthlich in beiden Krankheiten, wenn sie einfach, rein und von aller Komplikation abgesondert genommen werden. Unsre großen, erleuchteten Krankheitsbeobachter haben diese Wahrheit zur Gnüge eingesehn, als daß ich mich weitläufiger hierüber auszulassen nöthig hätte.
Wenn ich nun durchaus leugne, daß es absolute Spezifika für einzelne Krankheiten gebe, nach der Ausdehnung, die ihnen die gewöhnliche Pathologie *)
*) Noch ist die Geschichte der Krankheiten nicht so weit gediehen, daß man das Wesentliche von dem Zufälligen, das Eigenthümliche von dem Hinzutretenden, aus Idiosynkrasie, Lebensordnung, Leidenschaften, epidemischer Konstitution und mehrern andern äussern Umständen herrührenden Fremden gehörig abzusondern sich bemühet hätte. Oft glaubt man bei Beschreibung einer Krankheit ein in Eins zusammengezogenes Convolut von Krankengeschichten zu lesen, mit Verschweigung des Nahmens, des Orts, der Zeit, u. s. w. nicht wahren, abstrakt reinen, isolirten Krankheitscharakter, abgesondert von dem (etwa hinten an zu hängenden) Zufälligen. Nur die neuern sogenannten Nosologen haben dergleichen Fragmente gewagt; ihre Geschlechter sollen das seyn, was ich eigenthümlichen Charakter jeder Krankheit nenne, ihre Spezies aber die Zufälligkeiten.
Vor allen Dingen haben wir die Hauptkrankheit zu besorgen, die Abweichungen und Nebenzustände verlangen nur dann besondre Hülfe, wenn sie dringend, oder der Herstellung besonders hinderlich sind; sie verlangen die Haupthülfe, mit Hintansetzung der ursprünglichen Krankheit, wenn diese durch Uebergang ins Chronische unbedeutender und weniger dringend ist, jene aber sich allmählich zur Hauptkrankheit erhoben haben.
anweiset, so glaube ich auf der andern Seite, überzeugt zu seyn, daß es soviel Spezifika giebt, als es verschiedne Zustände der einzelnen Krankheiten giebt, d. i. für die reine Krankheit Spezifika und für die Abweichungen und übrigen unnatürlichen Körperzustände besondre.
Wenn ich mich nicht irre, so hat die praktische Arzneikunde gewöhnlich drei Wege eingeschlagen, um den Beschwerden des menschlichen Körpers Heilmittel anzupassen.
Der erste Weg, die Grundursachen der Uebel hinwegzunehmen oder zu zerstören, war der erhabenste, den sie betreten konnte. Alles Dichten und Trachten der besten Aerzte in allen Jahrhunderten ging auf diesen, der Würde der Kunst angemessensten Zweck. Es blieb aber immer, um mich eines spagyrischen Ausdrucks zu bedienen, bei Partikularen; den großen Stein, die Kenntniß der Grundursachen aller Krankheiten, erlangten sie nie. Von den meisten Krankheiten werden sie auch der menschlichen Schwäche ewig verborgen bleiben. Indeß, was man davon aus der Erfahrung aller Zeiten abstrahiren konnte, vereinigte man in der allgemeinen Therapie. So hob man bei langwierigen Magenkrampfe zuerst die allgemeine Körperschwäche, die Krämpfe vom Bandwurm besiegte man durch Tödung dieses Thieres, das Fieber von verdorbnem Mageninhalte vertrieb man durch kräftige Brechmittel, bei Verkältungskrankheiten stellte man die unterdrückte Ausdünstung her, und schnitt die Kugel aus, welche Wundfieber erregte. Dieser Zweck bleibt über alle Kritik erhaben, obgleich die Mittel dazu nicht immer die zweckmäßigsten waren. Ich lasse diese königliche Straße dießmal zur Seite liegen, da mich jezt die übrigen beiden Wege, Arzneien anzuwenden, beschäftigen.
Auf dem zweiten Wege suchten sie die vorhandnen Symptomen durch Arzneien zu unterdrücken, die eine gegenseitige Veränderung hervorbringen, z. B. Verstopfung des Leibes durch Abführungsmittel, – entzündetes Blut durch Aderlässe, Kälte, Salpeter, – Säure im Magen durch Alkalien, – Schmerzen durch Mohnsaft. In akuten Krankheiten, welche, wenn wir die Hindernisse der Genesung auch nur auf einige Tage entfernt halten, die Natur größtentheils selbst besiegt, oder, wenn wir es nicht können, unterliegt, in akuten Krankheiten, sage ich, sind diese Arzneianwendungen richtig, zweckmäßig, hinreichend, so lange wir den oben erwähnten Stein der Weisen (die Kenntniß der Grundursache jeder Krankheit und ihrer Abhülfe) noch nicht besitzen, oder so lange wir kein schnell wirkendes Spezifikum haben, welches z. B. die Pockenansteckung gleich im Entstehen auslöscht. Ich würde in diesem Falle solche Mittel temporelle nennen.
Liegt aber die Grundursache der Krankheit und ihre direkte Abhülfe am Tage, und wir bestreiten, dessen uneingedenk, die Symptomen doch blos durch Mittel dieser zweiten Art, oder setzen sie chronischen Krankheiten im Ernste entgegen, dann erhält diese Heilmethode (Beschwerden durch Mittel, die das Gegentheil wirken, zu bestreiten) den Nahmen der palliativen und wird verwerflich. Bei chronischen Krankheiten lindert sie nur anfänglich, in der Folge sind stärkere Gaben solcher Mittel nöthig, die die Hauptkrankheit nicht heben können, und so schaden sie um desto mehr, je länger sie in Ausübung gebracht werden, aus Gründen, die weiter unten vorkommen.
Ich weiß zwar wohl, daß man noch immer habituelle Neigung zu Leibesverstopfung durch fleißige Aloemittel und Laxirsalze zu heben unternimmt; aber mit welchem widrigen Erfolge! Ich weiß wohl, daß man die chronischen Blutaufwallungen hysterischer, kachektischer und hypochondrischer Personen noch immer durch wiederhohlte, obschon kleine Aderlässe, Salpeterpulver und dergl. zu dämpfen sich bemüht; aber mit welchem widrigen Erfolge! Den Stubensitzern verordnet man gegen ihre chronischen Magenbeschwerden mit sauerm Aufstoßsen begleitet, noch immer Bittersaltzerde fortgesetzt zu gebrauchen; aber mit welchem widrigen Erfolge! Chronische Schmerzen irgend einer Art sucht man noch immer durch fortgesetzte Mohnsaftmittel zu tilgen; aber mit welchem widrigen Erfolge! Und wenn der größre Theil meiner ärztlichen Zeitgenossen noch dieser Methode anhiengen; ich fürchte doch nicht, sie palliativ, schädlich, verderblich zu nennen.
Ich bitte meine Mitbrüder, diesen Weg (Contraria contrariis) bei chronischen, auch schon den eben ins Chronische ausartenden akuten Krankheiten zu verlassen; er ist der unrichtige, ein Holzweg im dunkeln Haine, der sich an Abgründen verliert. Ihn hält der stolze Empiriker für die gebahnte Heerstraße, und brüstet sich mit der elenden Macht, etliche Stunden lindern zu können, unbekümmert, ob das Uebel unter dieser Tünche tiefere Wurzel faßt.
Doch ich brauche als Warner hier nicht allein zu stehen. Die bessern, einsichtsvollern und gewissenhaftern Aerzte haben in chronischen und ins Chronische ausartenden akuten Krankheiten von Zeit zu Zeit (auf einem dritten Wege) nach Mitteln gegriffen, die nicht die Symptomen vermänteln sollten, sondern die das Uebel aus dem Grund hüben, mit einem Worte, nach spezifischen Mitteln; das wünschenswertheste, löblichste Beginnen, was sich nur denken läßt. Sie versuchten so z. B. die Arnika in der Ruhr, und fanden sie in einigen Fällen spezifisch hülfreich.
Aber welcher Führer leitete sie, welche Gründe bestimmten sie, solche Mittel zu versuchen? Leider! nur Vorgang vom empirischen Hazardspiele, von Hausmittelpraxis, Fällen des Zufalls, wo man diese Substanzen von ungefähr bei dieser oder jener Krankheit hülfreich fand, oft nur in besondern, unbemerkten Kombinationen, die vielleicht wohl nie wieder vorkommen, zuweilen in reinen einfachen Krankheiten.
Gewiß es wäre Schade, wenn nur Zufall und empirisches Apropos uns bei der Ausfindung und Anwendung der eigentlichen, wahren Heilmittel chronischer Krankheiten, die gewiß die größere Zahl der menschlichen Beschwerden ausmachen, leiten müßte.
Die Wirkungen der Heilmittel zu erforschen, um sie den Körperbeschwerden anzupassen, sollte man so wenig wie möglich sich auf den Zufall verlassen, sondern so rationell und geflissentlich zu Werke gehen als nur möglich. Wir haben gesehn, daß zu letzterm Behufe die Beihülfe der Chemie noch mangelhaft ist und mit Behutsamkeit zu Rathe gezogen werden muß – daß die Aehnlichkeit der Pflanzengattungen im natürlichen Systeme, so wie die Aehnlichkeit der Arten einer Gattung, nur entfernte Winke geben, – daß die sinnlichen Eigenschaften der Arzneikörper nur etwas ganz Allgemeines lehren, was durch viele Ausnahmen beschränkt wird – daß die Veränderungen des aus der Ader gelassenen Blutes von der Beimischung der Arzneien nichts lehren – und daß die Einspritzung der letzern in die Adern der Thiere, so wie die Erfolge an Thieren, wenn man ihnen die Arznei zum Versuche eingiebt, ein viel zu rohes Verfahren sei, als daß man die feinen Wirkungen der Heilmittel daraus beurtheilen könnte.
Es bleibt uns nichts übrig, als die zu erforschenden Arzneien am menschlichen Körper selbst zu versuchen. Diese Nothwendigkeit sahe man zu allen Zeiten ein, aber man betrat gewöhnlich den falschen Weg, indem man sie blos, wie oben gedacht, empirisch und auf Gerathewohl gleich in Krankheiten anwendete. Die Gegenwirkung des kranken Körpers aber auf ein noch nicht, oder noch nicht gehörig geprüftes Mittel giebt so intrikate Erscheinungen, daß ihre Beurtheilung für den scharfsinnigsten Arzt zu schwer ist. Es erfolgt nichts, oder es erfolgen Verschlimmerungen, Veränderungen, Besserung, Genesung, Tod – ohne daß das größte praktische Genie errathen könnte, welchen Antheil der kranke Körper oder das Mittel (in der zu großen, mäßigen oder allzu kleinen Gabe?) an diesen Resultaten habe. Sie lehren nichts und verleiten zu falschen Muthmaßungen. Die Alltagsärzte verschwiegen den erfolgten Schaden, sie merkten nur mit einem Worte den Nahmen der (oft mit einer andern verwechselten) Krankheit an, wo das und jenes geholfen zu haben schien, und so entstanden die unnützen und schädlichen Schröder, Rutty, Zorn, Chomel, Pomet u. s. w., in deren dicken Büchern man eine ungeheure Menge größtentheils unkräftiger Arzneien findet, deren jede diese und noch zehn und zwanzig andre Krankheiten aus dem Grunde geheilt haben soll. *)
*) Das Wunderbarste bei dieser Spezifikation der Tugenden einzelner Droquen bleibt für mich immer der Umstand, daß man die noch jezt die Arzneikunst difamirende Methode, mehrere Arzneien zugleich in Ein Rezept kunstmäßig zu verflechten, zu den Zeiten erwähnter Männer so weit trieb, daß es selbst einem Oedipus unmöglich war, etwas von der Wirkung einem einzelnen Ingredienz des Mischmasches ausschließlich zuzueignen, und daß man damahls, fast noch seltner als jetzt, eine einzelne Droque als Arznei allein verordnete. Wie konnten nun aus einer so verwickelten Praxis die Kräfte der einzelnen Arzneien unterscheidbar hervorgehen?
Der wahre Arzt, den die Vervollkommnung seiner Kunst am Herzen liegt, kann keine andern Nachrichten von Arzneien brauchen, als:
Erstens, welche reine Wirkung bringt eine jede vor sich in dieser und jener Gabe im gesunden menschlichen Körper hervor?
Zweitens, was lehren die Beobachtungen ihrer Wirkung in dieser oder jener, einfachen oder verwickelten Krankheit?
Den letztern Zweck erreichen zum Theil die praktischen Schriften der besten Beobachter aller Jahrhunderte, besonders der neuern Zeiten. In ihnen ist der bisher einzige Vorrath ächter Kenntniß der Kräfte der Arzneien in Krankheiten zerstreut enthalten, wo den genau beschriebnen Fällen die einfachsten Droquen angepasset, und treu erzählet worden, wo und in wiefern sie hülfreich, wo und in wiefern sie schädlich oder minder zuträglich gewesen (Wollte Gott! ihre Zahl wäre nicht so klein).
Da aber auch unter ihnen die Widersprüche so häufig vorkommen, daß der eine in diesem Falle verwirft, was der andre in einem ähnlichen vortrefflich befunden haben will, so merkt man wohl, daß es uns noch an einer der Natur abgefragten Norm fehle, wornach wir den Werth und die Gnade der Wahrheit ihrer Erfahrungen abwägen könnten.
Diese Norm, deucht mir, kann einzig aus den Wirkungen abstrahirt werden, die eine genannte Arzneisubstanz vor sich, in dieser und jener Gabe im gesunden menschlichen Körper hervorgebracht hat.
Dahin gehören die Geschichten von unvorsichtig oder unwissend verschluckten Arzneisubstanzen und Giften, und solchen, die man, um sie zu prüfen, mit Vorsatz selbst eingenommen, oder dazu bestimmten, sonst gesunden Menschen, Kapitalverbrechern, u. s. w. mit Fleiß eingegeben hat, zum Theil auch diejenigen, wo eine unrechte starkwirkende oder sonst in großer Gabe ergriffene Substanz als Hausmittel, oder Arznei bey geringfügigen oder sonst leicht zu beurtheilenden Krankheiten gebraucht ward.
Eine vollständige Sammlung dieser Art Nachrichten mit Bemerkung der Grade der Glaubwürdigkeit ihrer Erzähler würde, wenn ich mich nicht sehr irre, der Grundkodex der Arzneimittelkunde, das heilige Buch ihrer Offenbahrung seyn.
In ihnen allein läßt sich die wahre Natur, die ächte Wirkung der Arzneisubstanzen geflissentlich entdecken, aus ihnen läßt sich errathen, welchen Krankheitsfällen sie mit Erfolg und Sicherheit anzupassen sind.
Weil es aber dann doch wohl noch an einem Schlüssel fehlen möchte, so bin ich hier vielleicht so glücklich, das Prinzip darzulegen, nach welchem man zu Werke gehen könnte, um zur Ausfüllung der Lücken in der Heilkunde und zu ihrer Vervollkommnung allmählig für jedes, vorzüglich chronisches Uebel ein passendes spezifisches*)
*) Ich habe es in dieser Abhandlung größtentheils mit Auffindung der permanent wirkenden spezifischen Heilmittel für (vorzüglich) chronische Kranhkeiten zu thun. Die, die Grundursache hebenden, und die temporell wirkenden Heilmittel für akute Krankheiten, welche in eingen Fällen den Nahmen Palliativmittel erhalten, lasse ich hier zur Seite liegen.
Heilmittel aus dem bisher bekannten (und dem noch unbekannten) Arzneivorrathe nach Gründen heraus zu finden und nach Gründen anzupassen. Es beruht ungefähr auf Folgendem:
Jedes wirksame Arzneimittel erregt im menschlichen Körper eine Art von eigner Krankheit , eine desto eigenthümlichere, ausgezeichnetere und heftigere Krankheit, je wirksamer die Arznei ist. *)
*) Die wirksamsten, spezifische Krankheit erregenden, folglich hülfreichsten Arzneien nennt der Laie Gifte.
Man ahme der Natur nach, welche zuweilen eine chronische Krankheit durch eine andre hinzukommende heilt, und wende in der zu heilenden (vorzüglich chronischen) Krankheit dasjenige Arzneimittel an, welches eine andre, möglichst ähnliche, künstliche Krankheit zu erregen im Stande ist, und jene wird geheilet werden; Similia similibus.
Man darf nur die Krankheiten des menschlichen Körpers genau nach ihrem wesentlichen Charakter und ihren Zufälligkeiten auf der einen, und auf der andern Seite die reinen Wirkungen der Arzneimittel, das ist, den wesentlichen Charakter der von ihnen gewöhnlich erregten, spezifischen künstlichen Krankheit nebst den zufälligen Symptomen kennen, die von der Verschiedenheit der Gabe, der Form, u. s. w. herrühren und man wird, wenn man für die natürliche gegebene Krankheit ein Mittel auswählt, was eine möglichst ähnliche, künstliche Krankheit hervorbringt, die schwierigsten Krankheiten heilen können. *)
*) Will man, wie der behutsame Arzt sollte, allmählich zu Werke gehen, so giebt man dieß gewöhnliche Mittel nur in der Gabe, wo es die von ihr zu erwartende künstliche Krankheit kaum merkbar äussere (es wirkt denn doch vermöge seiner Neigung eine solche künstliche Krankheit zu erregen) und steigt allmählich in der Gabe, so daß man gewiß seyn kann, daß die beabsichtete innerliche Veränderung des Körpersystems kräftig genug erfolge, obgleich mit Aeusserungen, die den natürlichen Krankheitssymptomen an Heftigkeit weit nachstehen; so wird man gelind und sicher heilen. Will man aber, wenn sonst nur das Mittel zweckmäßig und recht passend gewählt ist, schnell zu Werke gehen, so wird man auch auf diese Art, wiewohl mit einiger Lebensgefahr, seine Absicht gewiß erreichen und das bewirken, was unter Bauern zuweilen von Empirikern plumperweise geschieht und was sie eine Wunder- und Pferdekur nennen – eine wohl Jahre alte Krankheit in wenigen Tagen heilen; ein Unternehmen, was wohl die Richtigkeit meines Grundsatzes, aber zugleich die Wagehälsigkeit des Unternehmers beweist.
Dieser Satz hat, ich gestehe es, so sehr das Ansehn einer unfruchtbaren, analytischen, allgemeinen Formel, daß ich eilen muß, ihn synthetisch zu erläutern. Vorerst aber noch einige Erinnerungen.
I. Die meisten Arzneien haben mehr als einerlei Wirkung, eine direkte anfängliche, welche allmählich in die zweite (ich nenne sie indirekte Nachwirkung) übergeht. Leztere ist gewöhnlich ein dem erstern gerade entgegengesezter Zustand. *)
*) Der Mohnsaft mag ein Beispiel geben. Eine furchtlose Gemüthserhebung, ein Gefühl von Kraft und hohem Muthe, ein gedankenreicher Frohsinn ist, bei einer gemäßigten Gabe, zum Theil die erste direkte Wirkung auf das innere Empfindungssystem: so wie sie aber, nach acht bis zwölf Stunden verraucht, entstehet allmählig die entgegengesetzte Körperstimmung, die indirekte Nachwirkung; es erfolgt Erschlaffung, Trübsinn, Diffidenz, Grämlichkeit, Unbesinnlichkeit, Unbehaglichkeit, Furcht.
So wirken die meisten Vegetabilien.
II. Nur wenige Arzneien machen hievon eine Ausnahme, und setzen ihre gleich anfängliche Wirkung ununterbrochen, aber gleichartig fort, doch in immer geringerm und geringerm Grade, bis nach einiger Zeit nichts mehr davon zu spüren, und die natürliche Körperbeschaffenheit wieder hergestellt ist. Von dieser Art sind die metallischen (und andre mineralische?) Arzneien, z. B. Arsenik, Quecksilber, Blei.
III. Man passe auf eine chronische Krankheit ein ihr in seiner direkten anfänglichen Hauptwirkung sehr gleichendes Heilmittel an, die indirekte Nachwirkung ist dann zuweilen gerade die Körperstimmung, die man zu erzielen sucht, zuweilen aber (vorzüglich, wenn man in der Gabe gefehlt hat), entsteht in der Nachwirkung eine Verstimmung, auf einige Stunden, selten Tage. Eine etwas starke Gabe Bilsenkrautsaft hinterläßt leicht zur Nachwirkung eine große Furchtsamkeit; eine Verstimmung, die zuweilen erst nach mehrern Stunden vergeht. Ist sie lästig und man muß ihre Dauer verkürzen, so hilft eine kleine Gabe Mohnsaft spezifisch und fast augenblicklich; die Furcht ist weg. Mohnsaft wirkt hier freilich nur entgegengesetzt, und palliativ; aber es bedarf auch nur eines palliativen, und temporellen Mittels, um ein transitorisches Uebel auf immer zu unterdrücken, wie auch bei akuten Krankheiten der Fall ist.
IV. Die Palliativmittel schaden wahrscheinlich deshalb so sehr in chronischen Krankheiten, und machen sie hartnäckiger, indem sie nach ihrer ersten, den Symptomen entgegengesetzten Wirkung eine Nachwirkung zurücklassen, die dem Hauptübel ähnlich ist.
V. Je mehr krankhafte Symptomen die Arznei in ihrer direkten Wirkung erregt, welche mit den Symptomen der zu heilenden Krankheit überein stimmen, desto näher kömmt die künstliche Krankheit der zu entfernenden, desto gewisser ist man des guten Erfolgs.
VI. Da man fast als Axiom annehmen kann, daß die Symptomen der Nachwirkung denen der direkten Wirkung gerade entgegengesetzt sind, so ist es einem Meister der Kunst erlaubt, wo die Nachrichten von den Symptomen der direkten Wirkung mangelhaft sind, das Fehlende durch Schlüsse, d. i. das Entgegengesetzte der Nachwirkungssymptomen in Gedanken zu ergänzen, das Resultat aber nur als Beitrag, nicht als Grundpfeiler seiner Beschlüsse zu betrachten.
Nach diesen Vorerinnerungen gehe ich fort, meinen Grundsatz, daß man, um die wahren Heilkräfte einer Arznei für chronische Krankheiten auszufinden, auf die spezifische künstliche Krankheit sehen müsse, die sie im menschlichen Körper zu erregen pflegt, um sie dann einer sehr ähnlichen kränklichen Körperverfassung anzupassen, die gehoben werden soll – durch Beispiele zu erläutern.
Auch der sehr ähnliche Satz, daß man, um gewisse, chronische Krankheiten gründlich zu heben, sich nach Arzneien umsehen müsse, die eine ähnliche, am besten sehr ähnliche, Krankheit im menschlichen Körper zu erregen pflegen – wird dadurch ins Licht gesetzt werden.
(Die Fortsetzung folgt im nächsten Stück.)
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zuletzt aktualisiert: 19.06.2001