|
|
Clemens von Bönninghausen:
Ein Fall von Rheuma, geheilt mit Valeriana officinalis (Baldrian)
... Ein Beispiel dürfte dies am besten erläutern und ich wähle
zu dem Ende ein Krankheitsbild aus meiner jüngsten Praxis, wofür die Mittelwahl
zwar nicht schwierig und anfangs sehr leicht schien, aber bei mangelnder Aufmerksamkeit
doch auch zu verfehlen war und welches manchem angehenden Homöopathen nebenbei
dazu dienen kann, sich selbst über das Mass seines Wissens zu prüfen.
E. N. aus L , ein Mann von einigen 50 Jahren, blühender,
fast allzurother Gesichtsfarbe, in der Regel heiteren, bei den heftigern Anfällen
aber zu Zornausbrüchen geneigten Gemüths mit deutlich nervöser Aufgeregtheit,
leidet schon seit einem Paar Monaten, -- (nach vorgängiger allopathischer Vertreibung
eines sogenannten rheumatischen Schmerzes der rechten Augenhöhle durch äussere
Mittel, welche nicht zu erfahren waren,) -- an einer eigenen Art von heftigen
Schmerzen am rechten Unterschenkel, welche die sämmtlichen Muskeln der hintern
Seite, namentlich die Wade bis zur Ferse herab, jedoch nicht die Gelenke des Knies
oder Unterfusses ergreifen. Den Schmerz selbst beschreibt er als ein höchst schmerzhaftes
klammartiges, zuckendes Reissen, oft von Stichen unterbrochen, die von Innen nach
Aussen gehen, in der Morgenzeit aber, wo der Schmerz überhaupt viel erträglicher
ist, dumpf wühlend und wie zerschlagen. Die Schmerzen verschlimmern sich gegen
Abend und in der Ruhe, besonders, nach vorgängiger Bewegung, im Sitzen und Stehen,
und namentlich wenn er dies bei einem Spaziergange im Freien thut. Während des
Gehens selbst springt der Schmerz oft plötzlich von der rechten Wade in den linken
Oberarm, und wird dann am unerträglichsten, wenn er die Hand in die Rocktasche
oder in den Busen steckt und den Arm ruhig hält, während er durch Bewegung des
Arms gelindert wird und davon oft plötzlich zur rechten Wade zurückkehrt. Die
meiste Erleichterung gewährt auf und ab Gehen in der Stube und Reiben des leidenden
Theils. Die Nebenbeschwerden bestehen in Schlaflosigkeit Vormitternacht, abendlichen,
öfters wiederkehrenden Anfällen von schnell überlaufender Hitze mit Durst, ohne
vorgängigen Frost, widrigfettigem Mundgeschmack mit Uebelkeit im Halse und in
einem, fast beständigen, drückenden Schmerze in dem unteren Theile der Brust und
in der Herzgrube, als wenn sich daselbst etwas herausdrängen wollte.
Jeder tüchtige, mit den Wirkungen seiner Heilmittel vollkommen
vertraute Homöopath wird bei einem so vollständigen und genauen Krankheitsbilde
über die hier hülfreiche Arznei nicht lange in Zweifel stehen, indem die Gesammtheit
der Zeichen nur einer derselben durchaus homöopathisch entspricht, wahrend der
Anfänger sich genöthigt sehen wird, fast jedes Zeichen nachzuschlagen und erst
nach langem Suchen die Angemessenste unter den konkurrirenden Mitteln findet.
Zwischen diesen beiden Extremen von Wissen und Nicht-Wissen liegen zahlreiche
Stufen von Halb-Wissen, welche das Nachschlagen öfterer oder seltener nöthig machen.
Der Eine, z. B., weiss, dass die schnell überspringenden Schmerzen
von einem Theile auf den Andern, die gegen Abend und in der Ruhe schlimmer sind,
dabei der fettige Mundgeschmack, die Schlaflosigkeit vor Mitternacht und noch
einige andere der angeführten Symptome vorzugsweise der Wirkung der Pulsatilla
angehören, ist aber nicht sicher, ob auch die übrigen Zeichen zutreffen, und wird,
wenn er gewissenhaft verfahren will, sich der Muhe nicht überheben, auch diese
letztern zu vergleichen. Dann aber wird er bald einsehen, dass die Pulsatilla
in der That das rechte homöopathische Heilmittel nicht sein kann, weil ausser
den Gemüths-Symptomen auch noch mehre Andere gar nicht in Aehnlichkeit zutreffen,
oder gar mit denen dieser Arznei im Widerspruche stehen.
Ein Anderer hat mehr die Eigenthümlichkeit der Schmerzen studirt
und erinnert sich deutlich, dass die China den lähmigen und Zerschlagenheits-Schmerzen,
so wie dem klammartigen, zuckenden Reissen und den Stichen von Innen nach Aussen
vorzugsweise entspricht, und dass auch Schmerzen dabei vorkommen, die von einem
Theile auf den andern überspringen. Er glaubt überdem zu wissen, dass auch andere
Zeichen, wie die Schlaflosigkeit vor Mitternacht, die Verschlimmerung in der Ruhe,
so wie die Besserung durch Bewegung und Reiben, nebst der fliegenden Hitze mit
Durst zutreffen; aber von dem Uebrigen weiss er es nicht, und muss also nachschlagen.
Da wird er nun sehr bald, eben so wie der Vorige, auf Widersprüche stossen, welche
ihm die Unangemessenheit der China für den vorliegenden Fall deutlich zu
erkennen geben.
Keinem von beiden wird es nun noch einfallen, dem Kranken
versuchsweise ein Mittel zu reichen, dessen Heilkraft in diesem Falle so unwahrscheinlich
ist, sondern als gewissenhafter homöopathischer Arzt weiter forschen und vergleichen,
und mit Hülfe dieses Taschenbuchs ohne grosse Mühe bald das einzige, hier wahrhaft
homöopathisch angezeigte Heilmittel finden.
Wenn aber ein Dritter in der Homöopathie bewandert genug ist,
um gleich von vorn herein die Gegen-Anzeigen von Puls., Chin. und
anderen konkurrirenden Arzneien zu erkennen, die den Hauptzeichen entsprechende
Valeriana aber nicht hinlänglich kennt, um seiner Sache mit diesem, seltener
anwendbaren Mittel völlig sicher zu sein, so wird schon ein schnelles Aufsuchen
einiger zweifelhaften Zeichen hinreichen, ihm bald die Ueberzeugung zu gewähren,
dass diese Arznei unter den Bekannten die hülfreichste sein müsse, wie auch der
Erfolg bestätigte, indem nach einer einzigen, hochpotenzierten, ungemein kleinen,
in Wasser aufgelöst genommenen Gabe binnen dreien Tagen das ganze Leiden mit sämmtlichen
Nebenbeschwerden völlig gehoben war. ...
Quelle: Clemens von Bönninghausen: Therapeutisches
Taschenbuch, Münster 1846
|
|