Praxis für Homöopathie
Thomas Mickler
Heilpraktiker
Aktienstr. 175
D-45473 Mülheim an der Ruhr

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Clemens von Bönninghausen:
Ein Fall von Rheuma, geheilt mit Valeriana officinalis (Baldrian)


... Ein Beispiel dürfte dies am besten erläutern und ich wähle zu dem Ende ein Krankheitsbild aus meiner jüngsten Praxis, wofür die Mittelwahl zwar nicht schwierig und anfangs sehr leicht schien, aber bei mangelnder Aufmerksamkeit doch auch zu verfehlen war und welches manchem angehenden Homöopathen nebenbei dazu dienen kann, sich selbst über das Mass seines Wissens zu prüfen.

E. N. aus L , ein Mann von einigen 50 Jahren, blühender, fast allzurother Gesichtsfarbe, in der Regel heiteren, bei den heftigern Anfällen aber zu Zornausbrüchen geneigten Gemüths mit deutlich nervöser Aufgeregtheit, leidet schon seit einem Paar Monaten, -- (nach vorgängiger allopathischer Vertreibung eines sogenannten rheumatischen Schmerzes der rechten Augenhöhle durch äussere Mittel, welche nicht zu erfahren waren,) -- an einer eigenen Art von heftigen Schmerzen am rechten Unterschenkel, welche die sämmtlichen Muskeln der hintern Seite, namentlich die Wade bis zur Ferse herab, jedoch nicht die Gelenke des Knies oder Unterfusses ergreifen. Den Schmerz selbst beschreibt er als ein höchst schmerzhaftes klammartiges, zuckendes Reissen, oft von Stichen unterbrochen, die von Innen nach Aussen gehen, in der Morgenzeit aber, wo der Schmerz überhaupt viel erträglicher ist, dumpf wühlend und wie zerschlagen. Die Schmerzen verschlimmern sich gegen Abend und in der Ruhe, besonders, nach vorgängiger Bewegung, im Sitzen und Stehen, und namentlich wenn er dies bei einem Spaziergange im Freien thut. Während des Gehens selbst springt der Schmerz oft plötzlich von der rechten Wade in den linken Oberarm, und wird dann am unerträglichsten, wenn er die Hand in die Rocktasche oder in den Busen steckt und den Arm ruhig hält, während er durch Bewegung des Arms gelindert wird und davon oft plötzlich zur rechten Wade zurückkehrt. Die meiste Erleichterung gewährt auf und ab Gehen in der Stube und Reiben des leidenden Theils. Die Nebenbeschwerden bestehen in Schlaflosigkeit Vormitternacht, abendlichen, öfters wiederkehrenden Anfällen von schnell überlaufender Hitze mit Durst, ohne vorgängigen Frost, widrigfettigem Mundgeschmack mit Uebelkeit im Halse und in einem, fast beständigen, drückenden Schmerze in dem unteren Theile der Brust und in der Herzgrube, als wenn sich daselbst etwas herausdrängen wollte.

Jeder tüchtige, mit den Wirkungen seiner Heilmittel vollkommen vertraute Homöopath wird bei einem so vollständigen und genauen Krankheitsbilde über die hier hülfreiche Arznei nicht lange in Zweifel stehen, indem die Gesammtheit der Zeichen nur einer derselben durchaus homöopathisch entspricht, wahrend der Anfänger sich genöthigt sehen wird, fast jedes Zeichen nachzuschlagen und erst nach langem Suchen die Angemessenste unter den konkurrirenden Mitteln findet. Zwischen diesen beiden Extremen von Wissen und Nicht-Wissen liegen zahlreiche Stufen von Halb-Wissen, welche das Nachschlagen öfterer oder seltener nöthig machen.

Der Eine, z. B., weiss, dass die schnell überspringenden Schmerzen von einem Theile auf den Andern, die gegen Abend und in der Ruhe schlimmer sind, dabei der fettige Mundgeschmack, die Schlaflosigkeit vor Mitternacht und noch einige andere der angeführten Symptome vorzugsweise der Wirkung der Pulsatilla angehören, ist aber nicht sicher, ob auch die übrigen Zeichen zutreffen, und wird, wenn er gewissenhaft verfahren will, sich der Muhe nicht überheben, auch diese letztern zu vergleichen. Dann aber wird er bald einsehen, dass die Pulsatilla in der That das rechte homöopathische Heilmittel nicht sein kann, weil ausser den Gemüths-Symptomen auch noch mehre Andere gar nicht in Aehnlichkeit zutreffen, oder gar mit denen dieser Arznei im Widerspruche stehen.

Ein Anderer hat mehr die Eigenthümlichkeit der Schmerzen studirt und erinnert sich deutlich, dass die China den lähmigen und Zerschlagenheits-Schmerzen, so wie dem klammartigen, zuckenden Reissen und den Stichen von Innen nach Aussen vorzugsweise entspricht, und dass auch Schmerzen dabei vorkommen, die von einem Theile auf den andern überspringen. Er glaubt überdem zu wissen, dass auch andere Zeichen, wie die Schlaflosigkeit vor Mitternacht, die Verschlimmerung in der Ruhe, so wie die Besserung durch Bewegung und Reiben, nebst der fliegenden Hitze mit Durst zutreffen; aber von dem Uebrigen weiss er es nicht, und muss also nachschlagen. Da wird er nun sehr bald, eben so wie der Vorige, auf Widersprüche stossen, welche ihm die Unangemessenheit der China für den vorliegenden Fall deutlich zu erkennen geben.

Keinem von beiden wird es nun noch einfallen, dem Kranken versuchsweise ein Mittel zu reichen, dessen Heilkraft in diesem Falle so unwahrscheinlich ist, sondern als gewissenhafter homöopathischer Arzt weiter forschen und vergleichen, und mit Hülfe dieses Taschenbuchs ohne grosse Mühe bald das einzige, hier wahrhaft homöopathisch angezeigte Heilmittel finden.

Wenn aber ein Dritter in der Homöopathie bewandert genug ist, um gleich von vorn herein die Gegen-Anzeigen von Puls., Chin. und anderen konkurrirenden Arzneien zu erkennen, die den Hauptzeichen entsprechende Valeriana aber nicht hinlänglich kennt, um seiner Sache mit diesem, seltener anwendbaren Mittel völlig sicher zu sein, so wird schon ein schnelles Aufsuchen einiger zweifelhaften Zeichen hinreichen, ihm bald die Ueberzeugung zu gewähren, dass diese Arznei unter den Bekannten die hülfreichste sein müsse, wie auch der Erfolg bestätigte, indem nach einer einzigen, hochpotenzierten, ungemein kleinen, in Wasser aufgelöst genommenen Gabe binnen dreien Tagen das ganze Leiden mit sämmtlichen Nebenbeschwerden völlig gehoben war. ...

 

Quelle: Clemens von Bönninghausen: Therapeutisches Taschenbuch, Münster 1846

 
   
 
  © Thomas Mickler zuletzt aktualisiert: 18.06.2001