Samuel Hahnemann
Akute Magenbeschwerden mit Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Aufstoßen
(Pulsatilla pratensis)
Hahnemann stellt hier die Symptome des Kranken den
Symptomen gegenüber, die durch die Pflanze Pulsatilla pratensis (Küchenschelle)
bei Gesunden in der Arzneimittelprüfung hervorgerufen wurden: "Ähnliches
werde durch Ähnliches geheilt."
Wenn Sie sich ein paar Prüfungssymptome ansehen, werden Sie einen Eindruck
davon bekommen, wie differenziert die Arzneiprüfungssymptome dokumentiert
worden sind.
So hat die Homöopathie zum Beispiel (lange vor der Hochschulmedizin) ein
sehr umfassendes Wissen über die Wirkungen - und Nebenwirkungen! - von Digitalis
gehabt, deren Wirkstoff heute in der Schulmedizin zur Behandlung bestimmter Herzkrankheiten
eingesetzt wird.
W – e, ein schwächlicher, blasser Mann von 42 Jahren,
dessen stete Beschäftigung am Schreibtische war, klagte mir den 27. Dec.
1815: er sey schon 5 Tage krank.
1) Den ersten Abend ward es ihm, ohne sichtbare
Veranlassung, übel und drehend, mit vielem Aufstoßen,
2) die Nacht drauf (um 2 Uhr) saures Erbrechen,
3) die drauf folgenden Nächte heftiges
Aufstoßen,
4) auch heute übles Aufstoßen von
stinkendem und säuerlichem Geschmacke,
5) es war ihm, als wenn die Speisen roh und
unverdaut im Magen wären,
6) im Kopfe sey es ihm so weit und hohl und
finster, und wie empfindlich darin.
7) Das kleinste Geräusch sey ihm empfindlich
gewesen,
8) er ist milder, sanfter, duldender Gemüthsart.
Hier ist zu bemerken:
Zu 1. Daß einige Arzneien Schwindel mit Übelkeit verursachen, so wie
auch Pulsatille (3.), welches seinen Schwindel auch
Abends macht (7.), was nur noch von sehr wenigen andern
beobachtet worden.
Zu 2. Erbrechen sauern und sauerriechenden Schleims erregen Stechapfel
und Krähenaugen, aber so viel man weiß, nicht in der Nacht.
Baldrian und Kockelsamen machen in der Nacht Erbrechen, aber kein
saures. Bloß Eisen macht Erbrechen in der Nacht (61.
62.), und kann auch saures Erbrechen (66.)
hervorbringen, aber nicht die übrigen hier zu berücksichtigenden Symptome.
Pulsatille aber macht nicht nur abendliches saures Erbrechen (349.
354.) und nächtliches Erbrechen überhaupt (355.),
sondern auch die übrigen von Eisen nicht zu erwartenden Beschwerden
dieses Falles.
Zu 3. Das nächtliche Aufstoßen ist der Pulsatille eigen (296.
297.).
Zu 4. Das stinkende, faulige (259.) und das säuerliche
Aufstoßen (301. 302.) ist ebenfalls
der Pulsatille eigen.
Zu 5. Die Empfindung von Unverdaulichkeit der Speisen im Magen bewirken wenige
Arzneien, und keine so vollständig und auffallend, als Pulsatille
(321. 322. 327.).
Zu 6. Außer Ignazsamen (2.), welcher jedoch
unsere übrigen Beschwerden nicht erregen kann, macht denselben Zustand Pulsatille
(39., verglichen mit 42. 94.
98.).
Zu 7. Pulsatille erregt dergleichen (995.), so wie
sie auch eine Überempfindlichkeit der andern Sinnorgane zuwege bringt, z.
B. des Gesichts (107.). Und obgleich die Unleidlichkeit des
Geräusches auch bei Krähenaugen, Ignazbohne und Sturmhut
zu finden ist, so sind diese doch nicht gegen die andern Zufälle homöopathisch
und besitzen am wenigsten das Symptom.
Zu 8. des milden Gemüthszustandes, welchen, nach dem
Vorberichte zu Pulsatille, diese letztere Pflanze ausgezeichnet verlangt.
Dieser Kranke konnte also durch nichts leichter, gewisser und
dauerhafter geheilt werden, als durch die hier homöopathische Pulsatille,
die er dann auch sogleich, aber seiner Schwächlichkeit und Angegriffenheit
wegen nur in einer sehr verkleinten Gabe, d. i. einen halben Tropfen des Quadrilliontels
eines starken Tropfens Pulsatille*),
*) Gleiche Absicht erreicht, nach unsern jetzigen
Kenntnissen und Erfahrungen, das Einnehmen eines feinsten Streukügelchens
Pulsatille X (decillionfacher Kraft-Entwickelung), ja, völlig eben so gewiss,
das einmalige Riechen an ein Senfsamen großes Streukügelchen derselben
Pulsatill-Potenzierung erhielt. Dies geschah gegen Abend.
Den folgenden Tag war er frei von allen Beschwerden, seine
Verdauung war hergestellt, und so blieb er frei und gut, wie ich nach einer Woche
von ihm hörte.
Die Erforschung eines so kleinen Krankheitsfalles und die Wahl
des homöopathischen Mittels dafür ist sehr
bald verrichtet von dem, welcher nur einige Uebung darin und die Symptome
der Arzneien theils im Gedächtnisse hat, theils sie leicht zu finden weiß;
aber es schriftlich mit allen Gründen und Gegengründen aufzustellen
(welches vom Geiste in einigen Augenblicken überschaut wird), macht, wie
man sieht, ermüdende Weitläufigkeit.
Von Pulsatille (Pulsatilla pratensis) genannte Prüfungssymptome
Quelle: "Reine Arzneimittellehre",
Band 2, 3. Auflage, 1833, S. 273-342, insgesamt 1153 verschiedene Symptome, schematisch
von Kopf zu Fuß geordnet.
Sympt. 3:
"Schwindel, als wenn man sich lange im Kreise herum dreht, mit Uebelkeit
verbunden."
Sympt. 7:
"Schwindliches Wanken, wie von Trunkenheit, mit innerer Kopfhitze bei Blässe
des natürlich warmen Gesichts, vorzüglich Abends."
Sympt. 349:
" Nach Bewegung in freier Luft, gegen Abend, Uebelkeit und salziges oder
saures Erbrechen."
Sympt. 354:
"Abendliches Wegbrechen der Speisen; hierauf Bitterkeit im Munde und Stumpfheit
der Zähne."
Sympt. 355:
"Nächtliches Erbrechen, mit stechend ziehendem Schmerze im Rücken
nach dem Schulterblatte zu."
Sympt. 296:
"Bittres Aufstoßen des Nachts."
Sympt. 297:
"Gallichtes Aufstoßen Abends."
Sympt. 259:
"Nach dem Mittagessen Aufstoßen wie nach faulem Fleische, und eben
dieser Geschmack bleibt nachgehends im Munde, mit Brecherlichkeit."
Sympt. 301:
"Nach dem Kaffeetrinken stößt (schwulkt) eine saure Flüssigkeit
herauf in den Mund."
Sympt. 302:
" Früh saures Aufstoßen."
Sympt. 321:
"Empfindung, als wenn man sich den Magen verderbt hätte."
Sympt. 322:
"Zeichen von höchst verdorbenem Magen."
Sympt. 327:
"Empfindung im Magen, als wenn man sich überessen hätte; die Speisen
kommen wieder in den Mund herauf, als wenn man sie ausbrechen sollte."
Sympt. 39:
"Wüstheit und Hohlheit im Kopfe; der Kopf war ihm wie eine Laterne."
Sympt. 42:
"Düsterheit des Kopfes; die Gedanken vergehen ihm."
Sympt. 94:
"Verdüsterung des Gesichts, wie ein Nebel vor den Augen, wenn man vom
Sitzen aufsteht und geht."
Sympt. 98:
"Früh beim Aufstehen aus dem Bette ist es ihm so finster vor den Augen."
Sympt. 995:
"Wenn er aus dem Schlafe erwacht, deuchtet ihm der Schall der Worte allzu
heftig, und dröhnt ihm schallend in den Ohren."
Sympt. 107:
"Das eine oder das andre Auge leidet stechende Schmerzen, fast ohne Entzündung
des Weißen, und kann nicht in die Flamme eines Lichtes sehen; er kann die
Augenlider nur wenig aufmachen."
Gemütszustand:
In der Vorrede zur Prüfung schreibt Hahnemann: "Es
wird daher auch der arzneiliche Gebrauch der Pulsatille um desto hülfreicher
seyn, wenn in Uebeln, zu denen in Rücksicht der Körperzufälle dieses
Kraut passt, zugleich ein schüchternes, weinerliches, zu innerlicher
Kränkung und stiller Aergerniß geneigtes, wenigstens mildes und nachgiebiges
Gemüth im Kranken zugegen ist, zumal, wenn er in gesunden Tagen guthmüthig
und mild (auch wohl leichtsinnig und gutherzig schalkhaft) war. Vorzüglich
passen daher dazu langsame, phlegmatische Temperamente, dagegen am wenigsten Menschen
von schneller Entschließung und rascher Beweglichkeit, wenn sie auch guthmüthig
zu sein scheinen."
Von Eisen (Ferrum metallicum) genannte Prüfungssymptome
Sympt. 61:
Das Erbrechen ist vor Mitternacht, wenn sie liegt, am schlimmsten, und vorzüglich,
wenn sie auf der Seite liegt.
Sympt. 62:
Erbrechen des Genossenen, gleich nach Mitternacht, worauf Widerwille gegen Genüsse
und Abscheu vor freier Luft erfolgt (6 Std. nach Einnahme).
Sympt. 66:
Alles, was sie erbricht, hat Säure und Schärfe.
Von Ignazsamen (Ignatia amara) genanntes Prüfungssymptom
Sympt. 2:
Gefühl von Hohlheit und Leere im Kopf.
Quelle des Fallbeispiels:
Reine Arzneimittellehre, Bd. 2, "Vorerinnerung", S. 31ff
Anm.: In der 3. Auflage von
1833 änderten sich gegenüber der 2. Auflage durch eine Neuordnung die
Symptomnummern. Die Nummern der genannten Prüfungssymptome wurden hier zur
besseren Auffindbarkeit der 3. und letzten Auflage angepasst.
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