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Dr. Eugene B. Nash (1838-1917)
Heilung einer akuten Magen-Darm-Erkrankung mit Colchicum autumnale
Dr. med. E. B. Nash stellt hier den Wert subjektiver
Empfindungen für die Wahl eines homöopathisches Arzneimittel dar und
beschreibt seine erste eigene Erfahrung mit einer Hochpotenz (C 200), die er nur
deshalb widerwillig einsetzte, weil ihm diese Arznei nicht in anderer Form zur
Verfügung stand. Das Ergebnis überraschte ihn selbst und veranlaßte
ihn zu weiteren Versuchen - mit positivem Ausgang.
... Doch ich fordere volle Anerkennung für den Wert jener subjektiv
empfundenen Symptome und Modalitäten, die sich nicht erklären lassen. Tatsächlich
bin ich ziemlich sicher, daß man sich auf die gut verifizierten subjektiven Symptome
bei der Heilung unserer Patienten häufiger verlassen kann als auf sämtliche pathologischen
Zustände, die wir kennen. Nun zu dem Symptom: "Der Geruch kochender Speisen
erregt Übelkeit bis zur Ohnmacht." Um den Wert dieses Symptoms darzustellen,
will ich einen Fall aus meiner eigenen Praxis anführen. Es war zugleich meine
erste Erfahrung mit einer so hohen Potenz wie der 200. Die Patientin, eine 75jährige
Frau, war plötzlich von einer Magenkrankheit befallen worden und hatte Blut in
großen Mengen erbrochen. Dann folgten blutige Stühle, die zuerst profus waren,
dann aber weniger und blutig-schleimig wurden. Es bestand starker Tenesmus und
Schmerz in den Eingeweiden. Aconitum, Mercurius, Nux vomica,
Ipecacuanha, Hamamelis und Sulfur wurden alle versucht, so
gut wie ich sie zu dieser Zeit zu wählen verstand, doch es trat keine Besserung
ein. Nachdem zwölf Tage vergangen waren, verschlimmerte sich der Zustand meiner
Patientin rapide, und es sah mir so aus, als müsse sie sterben. Sie war so schwach
geworden, daß sie den Kopf nicht vom Kopfkissen anheben konnte. Innerhalb von
24 Stunden wurden 65 Stühle, die im Bett abgegangen waren, gezählt. Die Schmerzen,
die Zahl der Entleerungen und sämtliche anderen Symptome verschlimmerten sich
von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang (dies ist ein zweites Charakteristikum von
Colchicum).
Während der ganzen Krankheit hatte diese Patientin solche Übelkeit
bis zur Ohnmacht vom Geruch kochender Speisen, daß die Türen zwischen Schlafzimmer
und Küche - diese war zwei große Zimmer entfernt - ständig geschlossen sein mußten.
Ich war damals nicht so vertraut mit der Arzneimittellehre wie heute, und obgleich
ich das Symptom nicht übersehen hatte, wußte ich doch kein Mittel, das gerade
dieses hatte. Aber ich hatte Lippes "Handbuch der Materia medica" in meinem Wagen.
Ich holte es und setzte mich neben das Bett, entschlossen, dieses eigentümliche
und hartnäckige Symptom zu finden, koste es was es wolle. Ich begann mit Aconitum
und sah mir die Magensymptome aller Mittel an. Soweit ich mich erinnern konnte
war es das erste Mal, daß ich es je bemerkte: da stand es in klarem Englisch unter
Colchicum. Danach sah ich in meiner Medizintasche nach diesem Mittel. Es
war nicht da, und ich war vier Meilen von zu Hause entfernt. Ich hatte einen Karton
mit Dunhams 200. Potenzen unter meinem Wagensitz, welcher schon über ein Jahr
dort lag. Ich hatte ihn mangels Vertrauen zu Hochpotenzen noch nie benutzt. Für
den Moment konnte ich jedoch nichts Besseres tun, und so löste ich einige Kügelchen
Colchicum in einem halben Glas kalten Wassers und ordnete an, nach jeder
Stuhlentleerung einen Teelöffel voll davon zu geben. Auf dem Heimweg hielt ich
mein Pferd zwei- oder dreimal an, um umzukehren und der armen, leidenden Frau
irgendeine andere Arznei zu geben. Ich fühlte mich schuldig, sagte mir aber: es
steht in der Materia medica von Lippe, und das sind Carrol Dunhams Potenzen, und
es gibt eine klare Indikation für die Verordnung, und die übrigen Symptome kontraindizieren
es nicht. Und so kam ich nach Hause.
Doch am nächsten Morgen fuhr ich früh hin, um meine Übereilung
von gestern wieder gutzumachen (wenn die Patientin nicht gestorben war). Man stelle
sich meine Überraschung vor, als die Patientin bei meinem Eintreten in das Krankenzimmer
ihren Kopf langsam auf dem Kissen wendete und mit einem Lächeln "Guten Morgen,
Doktor" sagte - ich war die letzten Morgen mit einem Stöhnen begrüßt worden. Ich
fiel dann fast selbst in Ohnmacht und ließ mich in einen Stuhl neben dem Bett
fallen und bemerkte: "Sie fühlen sich besser." "Oh ja, Doktor." "Wieviel haben
Sie von der letzten Arznei eingenommen?" "Zwei Gaben." "Was?" "Zwei Gaben. Ich
hatte nur noch zweimal Stuhlgang, nachdem Sie weggegangen waren." "Haben Sie nicht
noch Schmerzen?" "Die Schmerzen ließen sofort nach, und abgesehen von der Schwäche
fühle ich mich wohl." Sie nahm keine Arznei mehr, genas schnell und war während
der folgenden fünf Jahre vollkommen gesund, bis sie dann im Alter von 80 Jahren
starb. Ich kam niemals über diese Überraschung hinweg. Gegen meinen Willen überzeugt,
aber immer noch nicht ganz damit einverstanden.
Nun fing ich an, in vollem Ernst Versuche mit der 200. Potenz
zu machen. Ich habe seitdem zahlreiche Fälle von Herbstruhr auf dieselbe Indikation
hin mit diesem Mittel in derselben Potenz geheilt. Ich habe auch einen sehr schweren
Fall von Typhlitis (jetzt Appendizitis genannt, die so häufig operiert wird mit
mehr Todesfällen als je zuvor, ehe die Operation populär wurde) auf dasselbe Symptom
hin, das in diesem Fall sehr deutlich vorhanden war, geheilt. Ein schwerer Fall
von Brightscher Krankheit* wurde ebenfalls damit geheilt. Rheuma, Gicht und Wassersucht
wurden geheilt, wenn dieses Symptom vorhanden war. Ich habe meine Erfahrungen
mit diesem Mittel deshalb so ausführlich dargestellt, um damit drei Dinge zu beweisen:
1. daß wir uns nicht von Vorurteilen beeinflussen lassen sollten.
2. daß subjektive Symptome von großem Wert sind.
3. daß die 200. Potenzen eine Wirkung haben und heilen können.
Kurzglossar
Brightsche Krankheit: Nicht genau definierter Begriff, der
eine akute oder chronische Entzündung der Niere beschreiben kann, auch eine
degenerative Nierenerkrankung.
Der deutsche Name der Pflanze Colchicum autumnale ist "Herbstzeitlose".
In einer C200 (oder 200. Potenz) - das ist eine sog. Hochpotenz - ist sicher keine
Materie mehr enthalten. Näheres zur Potenzierung siehe FAQ.
Quelle:
E. B. Nash, Leaders in Homoeopathic Therapeutics, 1898.
Die "Leitsymptome in der homöopathischen Therapie" gibt es seit
1959 in deutscher Übersetzung beim Haug Verlag.
© 2001 Copyright Th. Mickler
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