Samuel Hahnemann:
Magenbeschwerden einer Lohnwäscherin (Bryonia alba)
Ein Fall vom Begründer der Homöopathie
selbst. Er stellt hier die Symptome der Kranken den Symptomen gegenüber,
die durch die Pflanze Bryonia alba (Zaunrebe) bei Gesunden hervorgerufen
wurden: "Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt."
Da es sich hier um ein Fallbeispiel aus der Frühzeit der Homöopathie
handelt, verschreibt er der Patientin hier noch einen ganzen Tropfen
des ähnlichsten Mittels. Er arbeitet hier also noch nicht mit potenzierten
Arzneien, d. h. die Potenzierung ist keine zwingende Voraussetzung für
eine homöopathische Behandlung, wohl aber die Ähnlichkeitsbeziehung
(siehe auch FAQ) zwischen Arznei und Krankheit!
Er weist jedoch darauf hin, daß die Arznei noch besser gewirkt
hätte, wäre sie potenziert gewesen.
Gewinnen Sie einen Eindruck davon, wie Homöopathen zur Verschreibung
von Arzneimitteln vorgehen - hier demonstriert anhand einer einfachen
akuten Krankheit.
Sch....., eine etliche und 40 jährige kräftige
Lohnwäscherin, war schon drei Wochen außer Stande, ihr Brod zu verdienen,
da sie mich den 1. September 1815 zu Rathe zog.
1. Bei jeder Bewegung, vorzüglich bei
jedem Auftreten, und am schlimmsten bei jedem Fehltritte, sticht es sie in der
Herzgrube, wohin es jedes Mal aus der linken Seite kommt, wie sie sagt.
2. Im Liegen ist es ihr ganz
wohl, dann hat sie gar keinen Schmerz irgendwo, auch weder in der Seite, noch
in der Herzgrube.
3. Sie kann nicht länger als bis um
3 Uhr früh schlafen.
4. Die Speisen schmecken
ihr, aber wenn sie etwas gegessen hat, so wird es ihr brecherlich.
5. Das Wasser läuft
ihr dann im Munde zusammen und aus dem Munde, wie Würmerbeseigen.
6. Es stößt ihr nach jedem Essen
vielmal leer auf.
7. Sie ist von heftigem,
zu Zorn geneigtem Gemüthe. – Bei starkem Schmerze überläuft sie
Schweiß. – Ihre Monatszeit war vor 14 Tagen in Ordnung geflossen.
Die übrigen Umstände waren natürlich.
Besprechung der einzelnen Symptome
Was nun das Symptom 1 anlangt, so machen zwar Belladonna, China und
Wurzelsumach Stiche in der Herzgrube, aber alle drei nicht bloß
bei Bewegung, wie hier. Pulsatille (m. s. Symptom 387.)
macht zwar Stiche in der Herzgrube beim Fehltreten, aber in seltner
Wechselwirkung, und hat weder dieselben Verdauungsbeschwerden, wie hier
4. verglichen mit 5 und 6, noch dieselbe Gemüthsbeschaffenheit.
Bloß
Zaunrebe hat in ihrer Hauptwechselwirkung, wie das ganze Verzeichnis
seiner Symptome beweiset, von Bewegung Schmerzen, und vorzüglich
stechende Schmerzen, und so auch Stiche (in der Herzgrube) unter dem
Brustbeine beim Aufheben des Armes (448.), bei Fehltritten
aber erregt sie auch an anderen Stellen Stechen (520.
600.).
Das hiezu gehörige negative Symptom 2 paßt vorzüglich auf Zaunrebe
(638.); wenige Arzneien (etwa Krähenaugen ausgenommen
und Wurzelsumach in Wechselwirkung — die beide aber auf unsre übrigen Symptomen
nicht passen) lassen die Schmerzen in Ruhe und im Liegen gänzlich schweigen,
Zaunrebe aber vorzüglich (638 und viele andre Zaunreben-Symptome).
Das Symptom 3 ist bei mehrern Arzneien, und auch bei Zaunrebe (694).
Das Symptom 4 ist zwar, was die "Brecherlichkeit
nach dem Essen" anlangt, bei mehrern andern Arzneien (Ignazsaamen, Krähenaugen,
Quecksilber, Eisen, Belladonna, Pulsatille, Kanthariden), aber theils nicht so
beständig und gewöhnlich, theils nicht bei Wohlgeschmack der Speisen
vorhanden, wie bei der Zaunrebe (279.).
In Rücksicht des Symptoms 5 machen zwar mehre Arzneien ein Zusammenlaufen
des Speichels, wie Würmerbeseigen, eben sowohl, als Zaunrebe (282.);
jene andern aber bringen nicht unsre übrigen Symptome in Aehnlichkeit hervor.
Daher ist ihnen die Zaunrebe in diesem Stücke vorzuziehen.
Das leere Aufstoßen (bloß nach Luft) nach dem Essen (Symptom
6,) ist bei wenigen Arzneien vorhanden und bei keiner so beständig, so gewöhnlich
und in so hohem Grade, als bei der Zaunrebe (253, 259.).
Zu 7. — Eins der Hauptsymptome bei Krankheiten (s. Organon der Heilkunst § 210.)
ist die "Gemüthsbeschaffenheit", und da Zaunrebe (772.)
auch dieses Symptom in voller Ähnlichkeit vor sich erzeugt; - so ist Zaunrebe
aus allen diesen Gründen hier jeder andern Arznei als homöopathisches
Heilmittel vorzuziehen.
Wirkung der Arznei
Da nun das Weib sehr robust war, folglich die Krankheitskraft
sehr beträchtlich seyn mußte, um sie durch Schmerz von aller Arbeit
abzuhalten, auch ihre Lebenskräfte, wie gedacht, nicht angegriffen waren,
so gab ich ihr eine der stärksten homöopathischen Gaben, einen vollen
Tropfen ganzen Zaunrebenwurzelsaftes *)
*) Nach den neuesten Vervollkommnungen unsrer neuen Heilkunst würde
das Einnehmen eines einzigen, feinsten Streukügelchens, mit der decillionfachen
(X) Kraft-Entwickelung befeuchtet, zu gleich schneller und vollkommener Herstellung
völlig hinreichend gewesen seyn; ja, eben so gewiss, das bloße Riechen
an ein Senfsamen großes Streukügelchen mit derselben Potenzierung befeuchtet,
so dass der in jenem Falle damals von mir einer robusten Person gegebene Tropfen
rohen Saftes durchaus nicht mehr zur Nachahmung dienen darf.
sogleich einzunehmen und beschied sie nach 48 Stunden wieder
zu mir. Meinem Freunde E., der zugegen war, deutete ich an, daß
die Frau binnen dieser Zeit durchaus gesund werden müsse, welcher
aber (nur erst noch auf halbem Wege zur Homöopathie begriffen)
dieß in Zweifel zog. Nach zwei Tagen stellte er sich wieder ein,
um den Erfolg zu vernehmen, aber das Weib kam nicht, kam auch überhaupt
nicht wieder. Meinen ungeduldigen Freund konnte ich nun bloß dadurch
besänftigen, daß ich ihm das eine halbe Stunde weit entfernte
Dorf, wo sie wohnte, und ihren Namen nannte und ihm rieth, sie aufzusuchen
und sich selbst nach ihrem Befinden zu erkundigen. Er that es, und ihre
Antwort war: "Was sollte ich denn dort? Ich war ja schon den Tag
drauf gesund und konnte wieder auf die Wäsche gehen, und den andern
Tag war mir so völlig wohl, wie mir noch jetzt ist. Ich danke es
dem Doktor tausendmal, aber unser Eins kann keine Zeit von seiner Arbeit
abbrechen; ich hatte ja auch drei ganze Wochen lang vorher bei meiner
Krankheit nichts verdienen können."
Von Pulsatilla pratensis genanntes Prüfungssymptom:
Quelle: Hahnemann,
Samuel: Reine Arzneimittellehre, Band 2, 3. Auflage, 1833, S. 298:
Sympt. 387:
"Stiche in der Herzgrube beim Fehltreten auf ungleichem Straßenpflaster
u.s.w."
Von Bryonia alba (Zaunrübe) genannte Arzneiprüfungssymptome:
Quelle: Hahnemann,
Samuel: Reine Arzneimittellehre, Band 2, 3. Auflage, 1833, S. 417-461,
insg. 781 verschiedene Symptome, schematisch von Kopf zu Fuß geordnet.
Sympt. 448:
"Bei dem geringsten Athemzuge ein Stich, wie in einem Geschwüre, der
so lange dauert als der Athemzug, auf einem kleinen Flecke unter dem Brustbeine,
welcher wie ein Geschwür schmerzt, selbst beim Berühren, noch mehr aber
beim Aufheben des rechten Armes, früh."
Sympt. 520:
"Schmerz im Trochanter, erschreckendes Stechen bei einem Fehltritte; in der
Ruhe Pochen darin; die Stelle thut bei Berührung sehr weh."
Sympt. 600:
"Stiche in den Gelenken, beim Bewegen derselben und beim Betasten."
Sympt. 638:
"Er glaubt, wenn er liegt, sey ihm besser."
Sympt. 694:
"Frühes Aufwachen die Nacht."
Sympt. 279:
"Nach dem Essen einer Speise, die ihm auch gut geschmeckt hat, Brecherlichkeit
und Ekel."
Sympt. 282:
"Abends Uebelkeit, und dann Auslaufen einer Menge Wassers aus dem Munde (Würmerbeseigen.)"
[Anm.: Würmerbeseigen = Wasserzusammenlaufen im Mund]
Sympt. 253:
"Oefteres Aufstoßen nach bloßer Luft."
Sympt. 259:
"Die Getränke machen kein Aufstoßen, wohl aber die geringste Speise,
doch nur nach bloßer Luft, ohne übeln Geruch."
Sympt. 772:
"Sehr ärgerlich und zum Zorne geneigt."
Quelle des Fallbeispiels:
Reine Arzneimittellehre, Bd. 2, "Vorerinnerung", S. 31ff
Anm.: In der 3. Auflage von
1833 änderten sich gegenüber der 2. Auflage durch eine Neuordnung die
Symptomnummern. Die Nummern der genannten Prüfungssymptome wurden hier zur
besseren Auffindbarkeit der 3. und letzten Auflage angepasst.
© 2001 Copyright Th. Mickler
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