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Constantin Hering: Ein Patient, der auf die richtige Diagnose wartete.
(oder: Der 1822er Rheinwein)
Weil jeder Arzt ihm wegen seiner Krankheit eine andere
Diagnose stellte und eine andere Behandlung vorschlug, will ein "reicher
Kauz" sich erst behandeln lassen, wenn er von drei Ärzten
unabhängig voneinander genau die gleiche Behandlung verordnet bekommt,
um sich der Qualität der empfohlenen Behandlung zu versichern.
Unglaubliche 477 Ärzte hat er schon hinter sich, da trifft er zufällig
auf den jungen, enthusiastischen homöopathischen Arzt Constantin
Hering, der die Geschichte aufgeschrieben hat.
Hering trug als einer der direkten Schüler Hahnemanns
wesentlich zur Verbreitung der Homöopathie in Amerika bei. Er hatte
als Student an der Chirurgischen Akademie in Dresden von dem Chirurgen
Jakob Heinrich Robbi (1789-1820) den Auftrag bekommen, ein Buch gegen
die Homöopathie zu verfassen. Nachdem er jedoch am eigenen Leib
die Heilung einer damals schwer zu behandelnden Sektionsverletzung erfahren
hatte, wurde es nichts mehr mit dem Buch. Statt dessen widmete er sich
nach Beendigung seines Studiums in Würzburg (Examen u.a. bei Johann
L. Schönlein) selbst der Homöopathie.
-- Auf meinen Reisen kam ich einst in ein Dorf, da ließ
mich der Edelmann einladen, die Nacht, statt in der Schenke, bei ihm
zu bleiben. Es war ein reicher Kauz, wie gewöhnlich krank dabei, hatte
Langeweile und guten Wein. Als er hörte, daß ich ein junger Doktor wäre,
der sich so eben auf Reisen begeben, sagte er, er wolle lieber, daß
sein Sohn ein Scharfrichter würde. Als ich mich deß wunderte, brachte
er ein großes Buch herbei und erzählte mir: er sey vor zwanzig Jahren
krank geworden, aber nicht am Verstande, und da hätten sich zwei berühmte
Doktoren gezankt über seine Krankheit, er habe also keinen von beiden
genommen, und ihre Arzneien noch weniger, aber die Sache in ein Buch
geschrieben. Hierauf sey er aber nicht gesund geworden, sondern auf
Reisen gegangen, Willens, wenn er drei Aerzte finden könne, die es über
ihn einig wären ohne Absprache, dann deren Kur zu brauchen, aber auch
keine andere. Darum habe er fast alle berühmten Aerzte, und noch einige
unberühmte um Rath gefragt, und bei aller seiner Plage sey er dem ersten
Vorsatze treu geblieben, habe jedes Mal den guten Rath hier ins Buch
eingetragen, aber noch keinen übereinstimmenden habhaft werden können,
daher auch keinen einzigen befolgt, sey zwar immer noch krank, aber
doch wenigstens am Leben geblieben. Uebrigens koste ihn das Buch ein
schweres Geld.
Das Buch war wie ein Comptoirbuch eingerichtet, in groß Folio, Tabellenform.
Da standen in der ersten Rubrik die Namen der Aerzte alle numerirt; es waren
ihrer 477; in der zweiten standen die Namen seiner Krankheit, so wie die
wesentlichen Naturen des Uebels erörtert, es waren 313 Verschiedenheiten
numerirt, als die wichtigern; in der dritten standen die vorgeschlagnen Mittel,
es waren 892 Recepte, in denen, zufolge des mit Sorgfalt angelegten Registers,
1097 verschiedene Heilmittel verordnet waren. Die Summen standen unter jedem
Folio angegeben. Er nahm eine Feder und sagte trocken: Wollen Sie mir nicht
auch etwas rathen, ich will's eintragen unter Nro. 478. Ich hatte aber keine
Lust, sondern fragte ihn nur, ob denn Hahnemann nicht dabei wäre. Er schlug
ihn lachend auf Nr. 301. Krankheitsname 0. Mittel 0. Das ist der gescheuteste
von allen, rief er, der sagte: der Name der Krankheit der ginge ihn nichts
an, und der Name der Mittel, der ginge mich nichts an; die Hauptsache wäre
nur die Heilung. Warum aber, fragte ich, er sich von diesem Gescheutesten
nicht behandeln lasse? Weil er nur Einer ist, ich aber drei will, die es
eins sind. Ich fragte: ob er wohl etliche hundert Thaler an einen Versuch
wenden wolle, dann könnte ich ihm nicht drei, sondern drei und dreißig Aerzte
namhaft machen an ganz verschiedenen Orten, Ländern und Weltgegenden, die
alle übereinstimmen würden. Er zweifelte, doch beschloß es zu wagen. Nun
machten wir eine Beschreibung seiner Krankheit, und er schickte dieselbe,
sobald die Kopien fertig waren, an drei und dreißig verschiedene homöopathische
Aerzte, legte in jeden Brief einen Louisdor - manche der Leser werden sich
dessen vielleicht noch erinnern - und ersuchte: ihm die Mittel namentlich
anzugeben, welche ihm seine Krankheit, wo nicht heilen, doch fürerst verbessern
könnten.
Vor Kurzem erhielt ich ein Faß Rheinwein von 1822. Zweiundzwanziger schicke
ich Ihnen, schrieb er, denn zwei und zwanzig stimmten in ihren Antworten
überein. Da sahe ich, daß Sie Recht hätten, und es noch eine Sicherheit gäbe
in der Welt. Ich schaffte mir die Werke an, um dahinter zu kommen. Unter
fast zweihundert Mitteln wählten zwei und zwanzig Aerzte, und alle dasselbe.
Mehr war nicht zu verlangen. Der nächste behandelte mich, und ich schicke
Ihnen den Wein, damit ich vor Freuden über meine zunehmende Gesundheit nicht
zu viel trinke.
Jedem, der die Wahrheit der Geschichte bezweifeln sollte, steht dies frei.
Aber wenn sich ein Kranker davon überzeugen will, so mache er nur die Probe
darauf, und thue so wie jener Kauz. Er vergesse aber die Louisdore nicht,
und für mich das Fäßchen Rheinwein.
Quelle:
Constantin Hering: Gelegentliche Betrachtungen [...] nebst verschiedenen
merkwürdigen Neuigkeiten. In: Hering, C.: Medizinische Schriften, Bd.
1, S.382-384. Hrsg.: K.-H. Gypser. Göttingen: Burgdorf Verlag 1988.
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