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G. H. G. Jahr
Unerwartete Heilung einer Blutfleckenkrankheit (Werlhof-Krankheit) mit Arsenicum
album
Sehr ernster Fall, der darstellen kann, was auch
im Extremfall mit einer homöopathischen Behandlung noch möglich sein
kann - auch bei hochakuten Krankheiten.
Fälle wie diesen wird man heutzutage in westlichen Ländern wohl kaum
in der homöopathischen Praxis zu sehen bekommen, doch zu der Zeit, als diese
Patientin behandelt wurde - vor 1869, gab es nicht viele erfolgversprechende Alternativen
zur Homöopathie.
Heute wird diese Krankheit - es handelt es sich
hierbei um die sog. Werlhof-Krankheit (=Idiopathische thrombozytopenische Purpura)
- mit Kortikosteroiden behandelt. Dann Splenektomie (Entfernung der Milz), falls
sich bei chronischem Verlauf mindestens 6 Monate keine Besserung zeigen sollte.
Und wenn das auch nicht hilft, als Ultima Ratio, die Immunsuppression (Unterdrückung
der fehlgeleiteten körpereigenen Abwehr).
... In Betreff dieses letzteren namentlich, das ich früher
noch nie gegen diese Krankheit angewandt hatte, kann ich zugleich nicht umhin,
einen der allerverzweifeltsten Fälle dieser Krankheit mitzutheilen, der wohl je
nur in der Praxis vorkommen kann.
Es war eines Abends, als ich zu einer jungen in grosser Dürftigkeit
lebenden Dame gerufen wurde, die vielleicht seit mehr als sechs Wochen mit dem
höchsten Elend gekämpft und zuweilen im Laufe einer Woche nur drei oder vier Tage
gehabt, wo sie etwas zu essen hatte. Der Grund, für den mich einer ihrer Verwandten
zu ihr führte, war ein in einen wahren Blutsturz übergegangener Regelfluss, der
die Kranke bereits so entkräftet hatte, dass sie nicht mehr das Bett verlassen
konnte.
Ich verschrieb China 2/30 in Wasserauflösung, alle
halbe Stunden einen Theelöffel voll zu nehmen und versprach den andern Morgen
bei Zeiten wieder zu kommen. Den folgenden Morgen aber war nicht nur der Mutterblutfluss
noch um nichts gebessert, sondern es hatten sich auch Blutungen aus Mund und Nase
noch dazu gefunden, auf der Körperhaut aber war noch nichts Besonderes zu sehen.
Ich verschrieb nun Phosph. 2/30 in Wasser auch von
diesem alle halbe Stunden einen Theelöffel voll zu nehmen, und später, wenn die
Blutung abgenommen habe, nur alle Stunden, bis zu meiner Wiederkunft am Abend.
Den Tag über hatte man indessen nochmals zu mir gesandt mit
dem schriftlichen Bemerken, dass die Blutung immer mehr zunehme und die Kranke
aus einer Ohnmacht in die andere falle. Da ich aber, als dieser Brief ankam, nicht
zu Hause war, so konnte ich erst Abends wieder hingehen und fand nun die Kranke
in dem allertrostlosesten Zustande. Zu den immer noch fortgehenden Blutungen aus
Gebärmutter, Mund und Nase hatten sich nicht nur im Munde, sondern auch auf der
Haut des ganzen Körpers thalergrosse Flecke und Blasen gebildet, welche reines
Blut aussiekerten, und die Kranke selbst, vor der Hand noch bei vollem Verstande,
lag da wie eine Leiche, mit todtenblassem, hippokratischem Gesicht, matten, glanzlosen
Augen und an allen Gliedern eiskalt, wie ein entseelter Körper.
Obgleich ich selbst nun in der That Alles für verloren hielt,
wollte ich ihr doch auch nicht gerade mit eigenem Munde den letzten Todesstoss
geben und legte ihr daher mehr nur pro forma, als in ernstlicher Hoffnung,
2/30 Arsen. trocken auf die Zunge, indem ich zugleich dieselbe Gabe in
Wasser verschrieb, mit dem Bedeuten, hiervon geradeso wie von den beiden vorigen
Mitteln Gebrauch zu machen, mich aber, wenn ja etwas vorfalle, sogar in der Nacht
davon in Kenntniss zu setzen. Die Nacht über kam keine Botschaft, den folgenden
Morgen um sieben Uhr aber erhielt ich einen schon den Abend zuvor, gleich nach
meinem Weggehen geschriebenen Brief, worin man mich bat, mir keine unnöthige Mühe
mit einem neuen Besuche zu machen, weil man zu einem Arzte aus der alten Schule
gesandt habe.
Dabei blieb die Sache und ich glaubte das arme Mädchen seit
Monaten schon begraben, als eines Tages, ohngefähr sechs Monate nachher, ein junges
Ehepaar zu mir eintrat, und der junge Mann, den ich nicht kannte, mich fragte,
ob ich mich wohl erinnere, vor etwa sechs Monaten ein an ungeheueren Blutungen
im Sterben liegendes junges Frauenzimmer behandelt zu haben. "Ja wohl !" antwortete
ich, "und wenn man keinen andern Arzt genommen, sondern meine letzte Verschreibung
fortgebraucht hätte, würde sie vielleicht haben gerettet werden können." "Das
hat sie auch gethan !" fiel darauf die junge, zwar etwas bleiche, doch sonst recht
wohl aussehende Frau ein: "sie hat Ihre Arznei fortgebraucht und die des Andern
weggeschüttet, und darum steht sie jetzt hier gerettet und verheirathet vor Ihnen,
um Ihnen ihren Dank zu bezeugen und Sie nach ihrer Schuldigkeit zu fragen."
Dass ich meinen Sinnen nicht traute, als ich dies hörte, wird
mir ja wohl gern Jeder glauben; es war aber so, wie sie es sagte, und jemehr sie
sprach, um so mehr erkannte ich die Stimme und die Gesichtszüge meiner früheren
Patientin wieder und erfuhr nun, dass der Arzt, den ihr Verwandter (ein Vetter
ihres nunmehrigen Mannes) hatte rufen lassen, diesem gesagt, es sei Alles verloren,
sie werde den nächsten Morgen nicht erleben; er wolle aber doch Etwas verschreiben
und den nächsten Morgen wiederkommen. Ehe aber seine Verschreibung ankam, hatten
die zwei Kügelchen (Arsen.), die ich ihr auf die Zunge gelegt, schon eine
merkliche Abnahme in den Blutungen hervorgebracht, so dass man nun die verschriebene
Wasserauflösung fortsetzte und dieselbe sogar, da es während des Gebrauches derselben
immer besser ging, ohne mein Vorwissen in der Apotheke hatte erneuern lassen,
so dass die Kranke acht Tage später wieder vollkommen auf den Beinen war.
Solche Wunder thun die Mittel auch in den kleinsten Gaben,
wenn sie passen!
Quelle:
G. H. G. Jahr, Therapeutischer Leitfaden, S. 269 f, Leipzig, 1869 (Nachdruck Bernd
von der Lieth, Verlag für homöopathische Literatur, Hamburg) [s. Fachverlage unter
"Links"]
Kurzglossar:
2/30: 2
Milchzuckerkügelchen einer Arznei in C 30.
China China
officinalis, Chinarindenbaum
Phosph. Phosphorus,
gelber Phosphor
Arsen.
Arsenicum album, Arsentrioxid
Mutterblutfluss Blutung aus der Gebärmutter
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